domradio.de: Zwei langhaarige junge Männer standen am 9. Oktober 1989 plötzlich vor Ihrer Kirche und fragten, ob sie filmen dürften. Sie sagten ja, obwohl es ja nicht ganz ungefährlich war. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
Pfarrer Sievers: Überhaupt nicht. Die Kirche und damit auch die Gemeinde war schon seit einigen Jahren an bürgerrechtskritischen Veranstaltungen aktiv beteiligt. Wir waren neben der Nikolaikirche die erste Kirche, wo am 2. Oktober Friedensgebete stattfanden. Am 9. Oktober waren wir ebenfalls vorbereitet auf das Friedensgebet. Als dann die beiden Männer kamen und fragten, hab ich nur überlegt, wie wir das technisch bewerkstelligen. Aber die Frage, sie auf den Turm zu lassen, stand außer Diskussion.
domradio.de: Wie kann man sich das denn vorstellen? Wie und wo genau haben sie gefilmt?
Pfarrer Sievers: Unsere Kirche liegt direkt am Leipziger Stadtring. Es ist tatsächlich die Kirche, die am nächsten zur Demonstrations-Strecke lag. Die anderen Kirchen lagen alle ein Stück entfernt. Kritisch war: Man muss durch die Kirche durchgehen, um auf den Turm zu kommen. Und der Hausmeister, der einzige Eingeweihte neben unserer Familie, hat das ganz geschickt gemacht.
Er ist mit uns hochgestiegen und hat die Kirchenturmtür von innen zugeschlossen. Dann haben wir die Kirche aufgemacht, sie war im Nu voll. Gegen halb fünf passte keiner mehr rein. In einer Kirche mit 500 Sitzplätzen waren auf einmal 1.500 Menschen. Während wir unten das Friedensgebet abhielten, habe ich natürlich gewusst, dass die beiden dort oben sitzen und filmen und fotografieren werden.
domradio.de: Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie damals gepredigt haben?
Sievers: Aber ja. Ich habe auch das Glück, dass die Predigt immer wieder gedruckt oder in Ausstellungen gezeigt wurde. Ich habe meine Rede an den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King angeknüpft und an den Busstreik in den USA erinnert: Die Farbigen sind damals gelaufen statt mit dem Bus zu fahren. Ich habe gesagt, jetzt sind wir dran, jetzt müssen wir laufen. So lange bis wir etwas erreicht haben. Das kann lange dauern, aber wir dürfen nicht müde werden. Gerade die Erinnerung an Martin Luther King hatte auch eine internationale Wirkung: Erst vor kurzem war eine amerikanische Professorin da, die sich besonders dafür interessierte. Es ist schön, das man da so ein Zeichen gesetzt hat.
domradio.de: Das war ja 1989, danach kam der Mauerfall. Hätten Sie gedacht, dass die Geschichte so einen Verlauf nimmt?
Sievers: Nein. Wir haben natürlich gedacht, dass es mit den Reisemöglichkeiten besser wird. Aber dass die DDR schon nach so kurzer Zeit zusammenbricht, nicht. Das ist ja so ähnlich, als würde man kurz gegen eine Wand stoßen und auf einmal fällt das ganze Haus zusammen. Das haben wir uns nicht vorstellen können. So weit reichte unsere Phantasie einfach nicht.
domradio.de: Siegbert Schefke und Aram Radomski – so hießen die beiden Filmemacher. Haben Sie denn danach nochmal etwas von den Beiden gehört?
Sievers: Ich habe damals nicht nach ihren Namen gefragt - für den Fall, dass mich jemand gefoltert hätte. Ich habe lange nichts von Ihnen gehört. Neun Jahre später kam plötzlich Siegbert Scheffke und wollte auf dem Turm nochmal filmen. Und seit dieser Zeit ist er sehr häufig bei uns gewesen, gerade zu besonderen Jahrestagen. Er hat immer wieder an das Ereignis und die Filmaufnahmen erinnert.
domradio.de: Sie sind ja jetzt in Pension. Wie werden Sie morgen den Jahrestag begehen?
Sievers: Meine Frau und ich sind zu den Festakten im Gewandhaus eingeladen. Das war schon vor fünf Jahren sehr feierlich und schön. Anschließend haben wir noch eine Einladung zum Empfang beim Bundespräsidenten im Rathaus. Das wollen wir alles nutzen, um in Erinnerungen zu schwelgen: Wie war damals? Was haben wir erreicht? Ob wir bis zum Lichterfest am Abend durchhalten, wissen wir nicht. Auch wir sind 25 Jahre älter geworden. Doch das meiste werden wir schon miterleben können und freuen uns darauf.
Das Gespräch führte Friederike Seeger.