Viele von Gregor Gysis Bundestagsreden bleiben im Gedächtnis. Und das nicht nur, weil er in der Wortwahl gerne mal deutlicher wird. Unvergessen etwa, wie er dem damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) drohte, er werde im Falle einer weiteren Privatisierung des Straßennetzes die Straße kaufen, in der Schäuble wohne und sie in "Zum Gysi" umbenennen. "Es wird ihnen am peinlichsten sein, immer schreiben zu müssen, dass sie 'Zum Gysi 1' wohnen", polterte der Politiker im Bundestag. Am 16. Januar wird der Ausnahmeredner 70 Jahre alt.
Seine Karriere begann im Rinderstall. Der gebürtige Ost-Berliner wurde bereits während der Oberschuljahre in der DDR parallel zum Facharbeiter für Rinderzucht ausgebildet. Das Besamen von Tieren sei eine gute Lehre für das politische Leben, sagte Gysi einmal der "Süddeutschen Zeitung". Erstens könne er künstlich besamen, zweitens ausmisten und drittens: "Ich kann mit Hornochsen umgehen. Wenn Sie das nicht können, gehen Sie auch nicht in die Politik."
"Ein Leben ist zu wenig"
Eigentlich war ihm aber klar, dass der Rinderzüchter nicht das Ziel war. Gysi entschied sich schließlich zum Jura-Studium, auch wenn sein Vater ihm mit auf dem Weg gab, dass, falls er auswandern müsse, er sicher eher als Cowboy denn als DDR-Anwalt gebraucht werde. Die kurze Idee, wie sein Vater in den diplomatischen Dienst der DDR einzutreten, verwarf Gysi. Direkt nach dem Abitur 1967 war er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eingetreten, für ihn und seine politisch aktiven Eltern die natürliche Heimat.
In seiner Autobiografie "Ein Leben ist zu wenig" geht Gysi, selbst Vater beziehungsweise Adoptivvater von zwei Söhnen und einer Tochter, ausführlich auf seine Familiengeschichte ein, darunter auch auf seine jüdischen Großeltern und prominente Kontakte jenseits des "Eisernen Vorhangs". So heiratete sein Onkel in erster Ehe die berühmte Schriftstellerin Doris Lessing - eine eher beiläufige Bemerkung im Buch. Auch der Kontakt des Vaters Klaus Gysi zum Sohn von Ernst Barlach fällt in einem Nebensatz.
Toleranz gegenüber Religionen
Klaus Gysi war im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv, später war er Kulturminister, mehrere Jahre Botschafter in Rom und danach Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR. Papst Benedikt XVI. habe bei seinem Besuch im Bundestag 2011 Gysi sofort auf seinen Vater, den damaligen Botschafter angesprochen.
Seine früh vom Vater geschiedene Mutter Irene Gysi arbeitete viele Jahre ebenfalls für den Staat als Auslandsbeauftragte im Kulturministerium der DDR. Seine Eltern hätten ihn zur Toleranz gegenüber Religionen erzogen, so Gysi. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) umschrieb er sein Verhältnis zu dem Thema einmal so: "Wenn ein Atheist ein nichtreligiöser Mensch ist, bin ich einer. Wenn das jemand ist, der Religion bekämpft, dann bin ich keiner." Er glaube stattdessen an die Vernunft im Menschen. Andernfalls habe er keinen Halt mehr, auf Verbesserungen zu hoffen. "Dann herrschen nur noch Geld und Gier."
Jüngster Anwalt der DDR
Nach dem Jura-Studium begann er mit 23 Jahren, als Rechtsanwalt zu arbeiten. Er sei damit der jüngste Anwalt der DDR gewesen, schreibt Gysi. Den Wehrdienst hatte er erfolgreich abwenden können. Die Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, kann Gysi wenig abgewinnen, wie er unlängst dem "Spiegel" sagte. "Dann delegitimieren Sie alles, auch die Biografien der Menschen, die in der DDR gelebt haben. Und das will ich nicht."
Davon unabhängig müsse er feststellen: "Auch das Unrecht stand immerhin im Gesetz." Eine inoffizielle Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit, wie es ihm immer wieder vorgeworfen wird, weist Gysi bis heute zurück. "Das war, ist und bleibt falsch." Und er ging mehrfach und erfolgreich dagegen gerichtlich vor.
Mit dem Fall der Mauer wurde der Jurist Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus, kurz PDS, die mit einigen Umwegen aus der SED hervorging. Gysi wurde Parlamentarier im ersten gesamtdeutschen Bundestag. Wenige Jahre später stieg er zum PDS-Vorsitzenden auf. Auch den Wandel der PDS zur Linkspartei gestaltete Gysi mit. Von 2005 bis zu seinem Rücktritt 2015 war er Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und Kompagnon, später jedoch auch Kontrahent von Oskar Lafontaine.
Heute bezeichnet sich Gysi selbst als Politiker, Anwalt, Autor und Moderator. Vor gut einem Jahr wählte die Europäische Linke Gysi auf einem Parteitag in Berlin zum Präsidenten. Seine politischen Aktivitäten und der damit verbundene Stress forderten über die Jahre das Ihre: Gysi erlitt mehrere Herzinfarkte und einen Gehirnschlag. Die Lust am Leben ist ihm geblieben: "Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen."
Von Anna Mertens