Man kann es als den großen Durchbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils bezeichnen, dass nun nicht mehr der Klerus allein Träger der Liturgie ist, sondern alle Gläubigen. Die entsprechende Konstitution "Sacrosanctum Concilium" spricht von der "bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern" (SC 14), zu der alle Gläubigen geführt werden sollten. Damit trug das Konzil einer schon jahrzehntelangen Entwicklung Rechnung, nach der die Gläubigen immer näher an das Geschehen der Liturgie, besonders der Heiligen Messe, herangeführt wurden.
Statt den Rosenkranz zu beten, während der Priester am Altar stand und die Liturgie feierte, verfolgte man den Ablauf der Messe mit dem Schott und verinnerlichte die Gebete. Statt des beliebigen Singens betrachtender Lieder wurden vor allem im deutschen Sprachraum Kurzparaphrasen des Ordinariums gesungen, die zum Teil auch heute noch in Gebrauch sind. In einigen Gemeinden erlebte sogar der Gregorianische Choral eine Renaissance, weil er exakt die Texte zu Gehör brachte, die der Priester am Altar betete. Die Schriftlesungen wurden mancherorts schon von einem Lektor in der Landessprache vorgetragen – freilich noch während der Priester die entsprechenden Texte auf Latein las.
Handeln der gesamten Kirche
Das Konzil gab also den Laien ihre Liturgiefähigkeit zurück. Sie sollten nun dem Geschehen nicht mehr nur beiwohnen, sondern auch durch tätige Teilnahme in die Feier eingebunden werden, ob nun durch Mitbeten und Mitsingen aus der Kirchenbank heraus oder durch einen besonderen liturgischen Dienst wie den des Lektors. Die Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch von 1969 (deutsch 1975) spricht vom "königlichen Priestertum aller Gläubigen", auf welches das "Wesen des priesterlichen Dienstamtes" weise und welchem größte Bedeutung zukomme.
Die Eucharistiefeier sei ein Handeln der gesamten Kirche, bei dem jeder "entsprechend seiner Stellung im Volke Gottes nur das und all das tun soll, was ihm zukommt" (AEM 5). Deutlich wird diese Rollenverteilung auch dadurch, dass im Missale Pauls VI. von 1969 die Schriftlesungen nicht mehr enthalten sind und es dafür nun ein eigenes Buch, das Lektionar, gibt, aus welchem der Lektor liest.
Amts- und Rollenverständnis des Priesters
Dennoch bildet sich die kirchliche Hierarchie gerade in den feierlichen Gottesdiensten besonders stark ab. Der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann rief vorletzte Woche angesichts des Missbrauchsskandals zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Liturgie und Macht auf. Es stelle sich die Frage, inwieweit durch Liturgie ein Amts- und Rollenverständnis vor allem von Priestern geprägt werde, das möglicherweise zu Machtfantasien anderen Menschen gegenüber führe.
Doch ist die Abbildung der kirchlichen Hierarchie - die freilich eine dienende ist - in der Liturgie keine Fehlentwicklung, sondern ausdrücklich vom Konzil gewünscht. Das heilige Volk sei "geeint und geordnet unter den Bischöfen", heißt es in der Liturgiekonstitution (SC 26). Von der "Verschiedenheit von Stand, Aufgabe und tätiger Teilnahme" ist die Rede. Wesensverschieden, aber einander zugeordnet seien das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das hierarchische Priestertum, betont die Konstitution über die Kirche, "Lumen Gentium" (LG 10). Macht empfindet auch der Bonner Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal zunächst einmal als nichts Schlimmes, sondern im Sinne von Vollmacht als etwas sehr Wesentliches für die Liturgie.
Fixierung auf Lehrmeister der Liturgie
Doch was bedeutet dies in der Liturgie für das Verhältnis von Klerus und Laien? Der Priester hat gerade in der Feier der Heiligen Messe einen gewissen Einfluss, der den Gläubigen in der Regel verschlossen bleibt. Er entscheidet über das Messformular, wählt unter den Variationsmöglichkeiten aus, entscheidet ggf. über den Wegfall einer Schriftlesung, predigt und erläutert. Das Konzil bezeichnet die Seelsorger als "Lehrmeister" der Liturgie (SC 14). Sie werden dadurch so sehr in ihr Zentrum gerückt, dass der Erbauungswert eines Gottesdienstes maßgeblich von ihrem Tun und Handeln abhängig ist.
Wie sehr sich dies im Denken mancher Gläubigen festgesetzt hat, ist an auch heute noch zu hörenden Formulierungen wie "der Pastor hat die Messe schön gefeiert" zu bemerken, als seien die Gläubigen lediglich anwesend gewesen und hätten zugeschaut. Hinzu kommt ab und an der Verdacht, dass die Auswahlkriterien für die eine oder andere Form von liturgischen Elementen weniger objektiver Art, sondern mehr persönlichen Vorlieben und Abneigungen geschuldet sind. So gibt es Gemeinden, denen das Allgemeine Schuldbekenntnis oder auch die Aufforderung vor dem Gabengebet ("Betet, Brüder und Schwestern …") völlig fremd sind. Manche Priester gehen noch weiter und verändern bewusst feststehende Texte, lassen Elemente weg oder fügen andere hinzu. Der Freiburger Liturgiewissenschaftler Helmut Hoping sprach in diesem Zusammenhang einmal von der neuen Art des liturgischen Klerikalismus.
So weit wollte es das Konzil aber gar nicht erst kommen lassen, dass alles in der Liturgie beliebig und für die persönlichen Bedürfnisse verfügbar ist. Der Hinweis, dass niemand, "auch wenn er Priester wäre, nach eigenem Gutdünken in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern" dürfe (SC 22), wirkt fast schon wie eine leise Vorahnung von dem, was später mancherorts durch übermäßige Kreativität entstanden ist. Die Amtsgebete seien nicht der Ort für die persönliche Spiritualität des Priesters, warnt Odenthal. Diese gehöre in die Auslegung des Evangeliums, in die Homilie.
Keine Frage nur des Konservativismus
Dass Klerikalismus nicht unbedingt traditionalistisch oder konservativ gefärbt sein muss, wird hin und wieder an einer äußerlichen Nuance deutlich, dass oft gerade solche Priester, die das Gemeinsame von Klerus und Gläubigen betonen, statt Messgewand lieber eine Mantelkasel tragen und dadurch die überliegende Stola, ihre Amtsinsignie, hervorheben (ab einer Breite von 16 cm wird diese in manchen Kreisen gerne auch als "Potenzstreifen" bezeichnet).
Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch Laien in Vorbereitungskreisen mitunter zu Herren über die Liturgie werden können. Meist haben sie diese Art der Gestaltung von Gottesdiensten von seelsorgerischen "Lehrmeistern" beigebracht bekommen und wehe dem Priester, der da auf die liturgischen Regeln aufmerksam macht und sich an das Messbuch hält. Mancher Kleriker kann von regelrechten Spießrutenläufen in der nächsten Pfarrgemeinderatssitzung erzählen.
Das Gegebene ernstnehmen
Wie also kann ein harmonisches Miteinander von Klerikern und Laien in der Liturgie funktionieren, ohne dass es zu Machtspielchen und Kompetenzgerangel kommt? Zunächst einmal müssen sich beide gegenseitig ernstnehmen, dass nämlich sowohl die einen als auch die anderen je "auf besondere Weise am Priestertum Christi" teilnehmen (LG 10). Ernstgenommen werden müssen allerdings auch die Liturgie der Kirche und ihre Ordnung, deren Ausgestaltung sinnenhaft, schön und gleichzeitig zutiefst vernünftig sein sollte. Folgt der Priester einem System, wenn er alle Gebete spricht und plötzlich "Geheimnis des Glaubens" singt? Zumindest steht die Frage im Raum, ob hier nicht eher Gedanken- und Planlosigkeit am Werk sind.
Andererseits werden Geistliche, die das Singen und Sprechen liturgischer Gebete an der Hierarchie der Anlässe ausrichten, sehr schnell als übermäßige Ästheten gebrandmarkt. So ließ der Freiburger Erzbischof Stephan Burger kurz nach seiner Wahl bei einigen "die Warnblinker leuchten" (Rhein-Neckar-Zeitung am 28.06.14), als ruchbar wurde, dass er beim liturgischen Singen und Sprechen streng nach Werktag, Sonntag und Hochfest unterscheidet.
Die Rede von Gott und zu Gott
Ganz gleich, ob nun die Gestaltung von Liturgie der einen oder anderen Geschmacksrichtung folgt, ihr Wesen ist der Dialog zwischen Gott und Mensch, weniger zwischen Priester und Gemeinde. Reinhard Kardinal Marx sagte anlässlich der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 2011 in einer Morgenpredigt, dass der Streit darum, ob es um eine Gotteskrise oder eine Kirchenkrise gehe, letztlich nicht weiter führe.
Es gehe um eine Erneuerung unserer Rede von Gott und unserer Rede zu Gott. Das sei das Zentrum des kirchlichen Lebens. An der Liturgie und in der Liturgie entscheide sich das zukünftige Geschick der Kirche. "Denn wie wir beten, wie wir Gott suchen, wie wir ihn bezeugen, daran soll man erkennen, wer wir sind."