Lob und Kritik am Umgang mit Missbrauch in EKD

Kann Missbrauch jetzt besser bekämpft werden?

Laut der Forum-Studie sind in der evangelischen Kirche bislang Missbrauchsfälle unzureichend aufgearbeitet worden. Dafür hagelt es Kritik von Betroffenen und Forschern. Doch nicht nur Kritik. Die Veröffentlichung wurde auch begrüßt.

EKD-Missbrauchsstudie / © Jens Schulze (epd)
EKD-Missbrauchsstudie / © Jens Schulze ( epd )

Laut der unabhängigen Forum-Studie sind in der evangelischen Kirche bislang Missbrauchsfälle unzureichend erfasst und aufgearbeitet worden. Lange Zeit haben es keine verbindlichen Regelungen gegeben, wie mit Missbrauchsfällen umzugehen sei, erklärte der Leiter der Forum-Studie, Martin Wazlawik, am Donnerstag in Hannover. Auch der Umgang mit Betroffenen sei nicht gut gewesen. Dies sei häufig auch aus der Haltung heraus geschehen, dass die evangelische Kirche sich als die bessere verstanden habe.

Laut der Studie für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sind seit 1946 laut einer spekulativen Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche in Kirche und Diakonie sexuell missbraucht worden. Bislang war von rund 900 Missbrauchsopfern die Rede. Nach den in einer Hochrechnung ermittelten Zahlen gibt es zudem 3.497 Beschuldigte, davon gut ein Drittel Pfarrer oder Vfikare.

Die Wissenschaftler erklären, dass die offiziell gemeldeten Zahlen von 1.259 Beschuldigten (davon 511 Geistliche) und 2.174 Betroffenen "unter dem Vorbehalt zu sehen sind, in keiner Weise das gesamte Missbrauchsgeschehen in den Landeskirchen und im Diakonischen Werk abzubilden" (Seite 725). Lediglich eine Landeskirche habe Zahlen sowohl aus den Disziplinarakten als auch aus den Personalakten übermittelt, daraus sei dann die Hochrechnung erfolgt. Die Forscher entdeckten spezifische Risikofaktoren, die Missbrauch und auch dessen Vertuschung in der evangelischen Kirche und der Diakonie begünstigt haben. Erstellt wurde sie Auftrag der EKD von einem unabhängigem Forscherteam aus acht deutschen Instituten.

Hochrechnung höchst strittig

Prof. Dreßing / © Dedert (dpa)
Prof. Dreßing / © Dedert ( dpa )

Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing, der auch schon die 2018 erschienen MHG-Studie der katholischen Kirche geleitet hat, erläuterte bei der Vorstellung der Zahlen, wie die Hochrechnung mit insgesamt 9.355 Betroffenen und 3.497 Beschuldigten zustande kam: Die zusätzliche Analyse der Personalakten in der einen kleineren Landeskirche, die als einzige diese Akten geliefert habe, habe gezeigt, dass die Disziplinarakten etwa 60 Prozent der Beschuldigten und 70 Prozent der Betroffenen nicht erfasst hätten.

Auf Basis dieser Daten und auch auf Basis von Erfahrungswerten ähnlicher Untersuchungen komme man dann statt der offiziell gemeldeten 1.259 Beschuldigten und 2.174 Betroffenen auf die deutlich höheren Zahlen, so Dreßing. Zugleich warnte er davor, diese Zahlen absolut zu setzen. Sie beruhten ausdrücklich nicht auf einer echten wissenschaftlichen Analyse, sondern nur auf einer «spekulativen Hochrechnung», was man immer dazusagen müsse.

Die Zahlen werden allerdings ausdrücklich genannt und ausführlich begründet in der Studie (Seite 585 bis 731), wobei der Forscher mehrfach betonen, dass es sich bei allen Ergebnissen nur um "die Spitze der Spitze des Eisbergs" handle und dass man von einem sehr großen Dunkelfeld ausgehen müsse.

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist die Gemeinschaft der 20 evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik. Wichtigste Leitungsgremien sind die EKD-Synode mit ihren Mitgliedern, die Kirchenkonferenz mit Vertretern der Landeskirchen sowie der aus ehrenamtlichen Mitgliedern bestehende Rat. Sitz des EKD-Kirchenamtes ist Hannover.

Synode der EKD / © Norbert Neetz (epd)
Synode der EKD / © Norbert Neetz ( epd )

Einheitliche Standards im Umgang mit Missbrauch

Wazlawik empfahl der evangelischen Kirche und der Diakonie einheitliche Standards im Umgang mit Missbrauchsfällen und Betroffenen. Weiter müsse es unabhängige Ansprechpartner geben; auch solle eine unabhängige Ombudsstelle errichtet werden. Für Betroffene müsse es "ein Recht auf Aufarbeitung" geben. Die Anerkennungsleistungen für Betroffene müssten zudem deutlich erhöht werden.

Kritik kam auch vom Psychiater Dreßing. Er kritisierte die Zuarbeit der evangelischen Landeskirchen bei der Erstellung der neuen Missbrauchsstudie. Sie hätten die von den Wissenschaftlern angeforderten und von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vertraglich zugesagten Daten und Akten nur schleppend und auch nur in Teilen geliefert, sagte er am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie in Hannover. Zudem seien "teilweise auch qualitativ unzureichende Daten übermittelt worden".

Im Vergleich zur katholischen Kirche habe man dies auf evangelischer Seite "schlechter hinbekommen, obwohl es im Vorfeld vereinbart war", fügte Dreßing hinzu. Während die Forscher auf katholischer Seite Daten zu den Personalakten der 27 Bistümer erhalten hatten, habe trotz vertraglicher Verpflichtung von den 20 evangelischen Landeskirchen nur eine einzige auch die Personalakten geliefert. Daher habe man sich bei den anderen zwangsläufig auf die weniger aussagekräftigen Disziplinarakten beschränken müssen.

Kritik am früheren Ratsvorsitzenden

Auch der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm wurde scharf kritisiert. Laut der Betroffenen Katharina Kracht habe er erst auf einer Synode 2021, nachdem er schon sieben Jahre lang Ratsvorsitzender gewesen sei, die Missbrauchsthematik angesprochen. Sie äußerte sich bei der Vorstellung der Forum-Studie. Kracht war nach eigenen Angaben als Jugendliche von einem evangelischen Pfarrer missbraucht worden.

Katharina Kracht, Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der EKD und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes "Forum - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland". / © Daniel Pilar (KNA)
Katharina Kracht, Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der EKD und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes "Forum - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland". / © Daniel Pilar ( KNA )

Der frühere Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Bedford-Strohm, war von 2014 bis 2021 EKD-Ratsvorsitzender. Bedford-Strohm hat selbst Fehler beim Umgang mit Missbrauchsfällen eingeräumt.

Betroffeneninitiative dringt auf Aufarbeitung

Die Betroffeninitiative "Eckiger Tisch" dringt nach der Veröffentlichung der Studie auf die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in den Kirchen durch den Staat. Entsprechende Aufarbeitungsstrukturen seien lange überfällig, sagte der Sprecher des "Eckigen Tisches", Matthias Katsch. Er warf der evangelischen Kirche zugleich vor, sich bei der Missbrauchsaufarbeitung jahrelang hinter der katholischen Kirche versteckt zu haben.

Die Kirchen hätten Schuld und Verantwortung auf sich geladen. «Sie haften nach unserem Grundgesetz von Amts wegen dafür», sagte Katsch. Auf eine erschütternde Studie müsse wirklich Aufklärung und Aufarbeitung folgen. "Es ist Zeit, dass die Opfer angemessen entschädigt werden", forderte der Betroffenenvertreter.

Stimmen aus der evangelischen Kirche

Die kommissarische Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, erklärte, wo Verantwortung nachweisbar sei, müsse es auch persönliche Konsequenzen geben. Sie forderte nachdrücklich eine Stärkung des Amtes der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, sowie eine Aufwertung der bundesweiten, unabhängigen Aufarbeitungskommission. Auf ein entsprechendes Gesetz hatten sich die Ampelfraktionen in ihrem Koalitionsvertrag verständigt. Es wurde mehrfach angekündigt, ein entsprechender Entwurf liegt aber bislang noch nicht vor.

Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD, spricht bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung einer Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche / © Julian Stratenschulte (dpa)
Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD, spricht bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung einer Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche / © Julian Stratenschulte ( dpa )

Fehrs sprach außerdem von einem "eklatanten Versagen" in Kirche und Diakonie. "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut", sagte sie. Ähnlich äußerte sich Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch: "Die Institution Diakonie hat in ihrem Schutzauftrag hier versagt." Man werde Verantwortung übernehmen.

Der rheinische Präses Thorsten Latzel erklärte: "Wir müssen vor allem den Betroffenen gut zuhören, um das erlittene Unrecht in seiner ganzen Dimension begreifen zu können." Vizepräses Christoph Pistorius sagte, die Maßnahmen zur Prävention und Intervention gelte es anhand der Studienerkenntnisse zu überprüfen und gegebenenfalls nachzujustieren. Der Theologische Vizepräsident der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, begrüßte die Studie. "Sie hilft uns dabei, Zusammenhänge besser zu verstehen und künftig alle Formen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch noch wirksamer zu bekämpfen", sagte er.

Jetzt gelte es, "die Inhalte der Studie aufmerksam und gründlich zu analysieren, um anschließend noch gezielter auf dem schon eingeschlagenen Weg der Prävention und Intervention fortfahren zu können", sagte der Theologe. Als wichtigstes Ziel bezeichnete es Schlüter, dass kirchliche Räume in Zukunft überall und für alle Menschen sichere Orte sind. Dazu solle ein 2021 in Kraft getretenes Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt beitragen. Bislang hätten in der westfälischen Kirche mehr als 16.630 Personen eine Präventionsschulung absolviert.

Bundesjustizminister will Aufarbeitung, Wiedergutmachung und bessere Prävention

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) verlangte von den Kirchen, sich für Aufarbeitung, Wiedergutmachung und bessere Prävention einzusetzen. "Es ist und bleibt erschütternd, dass gerade Kirchengemeinden jahrzehntelang Orte des vielfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen waren", erklärte Buschmann der KNA. "Die Kirchen haben hier bitterlich versagt."

Weiter erklärte Buschmann, der selbst katholisch ist, das Strafrecht gelte für alle - "auch für Pfarrer, Pastoren und andere Mitglieder und Angestellte der Kirche". Es gebe keine Privilegien und kein Sonderrecht für die Kirche. 

Familienministerin findet Zahlen erschreckend

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hat von der evangelischen Kirche eine systematische institutionelle Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs gefordert. Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie seien erschreckend, erklärte Paus auf Anfrage der KNA. Ihr Mitgefühl gelte allen Betroffenen. Das Vertrauen der Betroffenen in die Institution der evangelischen Kirche sei durch einzelne Täter in abscheulicher Weise ausgenutzt worden. 

Paus verwies zugleich auf das geplante Gesetz zur Stärkung des Amtes der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus. Der Referentenentwurf aus ihrem Haus befinde sich in der Ressortabstimmung, betonte die Ministerin. Sie sei zuversichtlich, dass er zeitnah im Bundestag beraten werden könne. Auf ein solches Gesetz hatten sich die Ampelfraktionen in ihrem Koalitionsvertrag verständigt. Es soll neben dem Amt der Beauftragten auch die bundesweite, unabhängige Aufarbeitungskommission stärken.

Parteikolleginnen stehen ihr bei

Die ebenfalls Grünen-Politikerinnen Lamya Kaddor und Denise Loop haben von der evangelischen Kirche Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie über sexualisierte Gewalt in ihren Reihen gefordert. "Nun muss die evangelische Kirche ihr Wort halten und ihren Umgang mit Betroffenen und Täterinnen und Tätern weiter reformieren", erklärten die religionspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Kaddor, und die Familienpolitikerin Loop am Donnerstag in Berlin.

"Betroffenen eine echte Aufarbeitung zu ermöglichen, ist das Mindeste", sagten Kaddor und Loop. Dazu gehörten auch «eine kooperative Mitarbeit von allen evangelischen Landeskirchen und grundlegende Veränderungen in der Aufarbeitungskultur der EKD". Die Forscher hatten kritisiert, dass nicht alle für die Erforschung der Fallzahlen notwendigen Akten eingesehen werden konnten. 

"Wir sehen hier erst die Spitze des Eisberges", erklärten die Abgeordneten. Das Problem von sexualisierter Gewalt sei strukturell, "in den Kirchen und der gesamten Gesellschaft". "Die Studie der evangelischen Kirche kann daher nur ein weiterer, wichtiger Schritt für eine flächendeckende Veränderung im Umgang mit sexualisierter Gewalt sein", erklärten sie.

Was sagt die Missbrauchsbeauftragte?

Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus geht davon aus, dass die ForuM-Studie zu sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche helfen kann, die Aufarbeitung zu verbessern. Die Erkenntnisse könnten auch dazu beitragen, Aufdeckung und Aufarbeitung zu professionalisieren, sagte Claus. Sie forderte Kirchenleitungen und die Diakonie auf, unverzüglich Konsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen, wonach es sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben hat als bislang angenommen. 

Claus forderte, es müssten nun schnell einheitliche Regelungen für Entschädigungszahlungen an die Betroffenen, die sogenannten Anerkennungsleistungen, geschaffen werden. Der Umgang mit den Betroffenen dürfe nicht davon abhängen, an welche Landeskirche sie sich wenden. Auch eine unabhängige Ombudsstelle, die von Betroffenen seit 2018 gefordert wird, müsse zeitnah eingerichtet werden, verlangte sie.

Kirche und Diakonie dürften nicht länger die Verantwortung für die Taten und die Aufarbeitung in komplizierten Strukturen unkenntlich machen, sagte Claus mit Blick auf die Forschungsergebnisse, wonach es in der evangelischen Kirche aufgrund ihrer föderalen Struktur eine "Verantwortungsdiffusion" gebe. Mit Blick auf die Betroffenenbeteiligung sagte die Missbrauchsbeauftragte, diese dürfe nicht dazu führen, dass ein Teil der Verantwortung für die Aufarbeitung den Betroffen selbst aufgebürdet werde.

Keine Einzelfälle und keine Einzeltäter

Zu der Fallzahlen sagte Claus, entscheidender als die neuen Zahlen sei, dass die Übergriffe auch im evangelischen Raum keine Einzelfälle und die Täter keine Einzeltäter seien. Die Missbrauchsbeauftragte betonte zudem, die Taten hingen nicht vom kirchlichen Milieu oder Zeitströmungen ab. Unabhängig davon, ob man es mit liberalen oder eher konservativen Kirchenleitungen zu tun habe, habe es in allen Landeskirchen Machtstrukturen geben, die die Anbahnung sexueller Gewalt ermöglicht oder begünstigt hätten. Deshalb müssten nun auch alle Kirchenleitungen und Leitungsorgane für einheitliche Gegenmaßnahmen sorgen.

Claus kritisierte es als "Leitungsversagen", dass Kirchenobere beim Bekanntwerden von Übergriffen nicht ausreichend geprüft hätten, ob es zu weiteren Taten gekommen sei. Die Studie habe jetzt ergeben, dass es auch in der evangelischen Kirche regelmäßig zu Mehrfachtaten komme. "Hier schnell zu handeln, ist elementar für den künftigen Schutz von Kindern und Jugendlichen", betonte die Missbrauchsbeauftragte.

Unterstützung aus der Politik

Anders als die Familienministerin hat sich der SPD-Politiker Lars Castellucci geäußert. Er hat die von der evangelischen Kirche beauftragte Studie über das Ausmaß sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen begrüßt und Aufklärung auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen gefordert. "Es ist gut, dass sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) den Fragen sexualisierter Gewalt im Kontext von Kirche und Diakonie gestellt hat", sagte der Kirchenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. "Zu viel Leid ist geschehen, zu viel Zeit ist vergangen, zu lange wurden Betroffene alleingelassen", ergänzte er.

Lars Castellucci / © Michael Kappeler (dpa)
Lars Castellucci / © Michael Kappeler ( dpa )

Man sehe nur die Spitze des Eisbergs, das Dunkelfeld sei nicht ausreichend erforscht, sagte Castellucci. Die Aufklärung müsse deshalb dringend weitergehen. Er forderte eine deutschlandweite Dunkelfeldstudie und regelmäßige Erhebungen, "um auch den Fortschritt von Präventionsstrategien messen zu können".

Die meisten Taten geschähen im persönlichen Nahfeld, aber auch in anderen Institutionen des Sports, des Ehrenamts, in Bildungseinrichtungen und Heimen. "So viel Kritik die Kirchen auch berechtigterweise einstecken müssen, so richtig ist es, dass sie auch mit den schmerzlichen Erfahrungen der Aufarbeitung Vorreiter gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen sind", sagte er und forderte von der Politik sicherzustellen, "dass sexualisierte Gewalt überall benannt und bekämpft wird".

Besseres Verständnis

Die Evangelische Kirche von Westfalen hat die Veröffentlichung der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie ebenso begrüßt. "Sie hilft uns dabei, Zusammenhänge besser zu verstehen und künftig alle Formen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch noch wirksamer zu bekämpfen", sagte der Theologische Vizepräsident der Landeskirche, Ulf Schlüter, am Donnerstag in Bielefeld. Die Studie biete eine neue Grundlage für weitere systematische Aufarbeitungsschritte zum Themenfeld sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie.

Auch wenn die Studie "auf schmerzliche Weise" systematische und strukturelle Probleme offenlege und auch das Versagen von Personen und Institutionen dokumentiere, sei er froh, jetzt auf wissenschaftlich fundierte Daten zurückgreifen zu können, sagte Schlüter weiter. "Als evangelische Kirche nehmen wir die Aussagen aller betroffenen Personen ernst und erkennen in Demut das Unrecht an, das sie erfahren haben." Schlüter seit dem Rücktritt von Präses Annette Kurschus kommissarisch die Aufgaben des leitenden Theologen der westfälischen Kirche inne.

Lippische Landeskirche zeigt sicht "bedrückt"

Die Lippische Landeskirche hat die Veröffentlichung der ForuM-Studie als wichtigen Baustein eines entschiedenen Einsatzes
gegen sexualisierte Gewalt begrüßt. "Die Versäumnisse der Vergangenheit bedrücken uns", erklärte der Landessuperintendent der
lippischen Kirche, Dietmar Arends, am Donnerstag in Detmold. "Umso mehr ist es unsere oberste Aufgabe, betroffene Personen
sexualisierter Gewalt heute zu unterstützen und die schmerzhaften Erfahrungen anzuerkennen, die sie erlitten haben." Fälle
sexualisierter Gewalt, auch aus der Vergangenheit, seien "konsequent und umfassend aufzuklären".

Die unabhängige Studie sei für die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt eine wertvolle Grundlage, sagte der oberste Repräsentant der Lippischen Landeskirche. Sie helfe, systemische Schwachstellen zu erkennen und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. «Gemeinsam wollen wir Verantwortung übernehmen und den Umgang mit sexualisierter Gewalt sensibel und mit höchster Sorgfalt gestalten», betonte Arends.

Für die EKD-weite Studie hatte die lippische Kirche nach eigenen Angaben acht Vorkommnisse aus den vergangenen Jahrzehnten gemeldet. Zwei weitere Verdachtsfälle, die erst danach bekannt geworden seien, würden aktuell aufgearbeitet. Diese Vorfälle beträfen die 80er und 90er Jahre.

Steigen jetzt die Austrittszahlen?

Aus Sicht des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack werden die Ergebnisse der Studie die Kirchekrise weiter verschärfen. "Es betrifft vor allem diejenigen, die von der Kirche viel halten und die selber in der Kirche sind", sagte Pollack der KNA. "Die wird es überraschen, für die ist es schmerzlich und erschütternd." Als Folge rechne er mit weiterhin hohen Kirchenaustrittsraten auch aus der evangelischen Kirche.

Prof. Dr. Detlef Pollack (privat)
Prof. Dr. Detlef Pollack / ( privat )

Pollack äußerte sich nach der Vorstellung der Forum-Studie, die Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der evangelischen Kirche und in der Diakonie untersucht. Laut Studie waren rund 64,7 Prozent der Opfer männlich und rund 35,3 weiblich. Bei den Beschuldigten handele es sich fast nur um Männer (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen seien bei der ersten Tat verheiratet gewesen. 

Ein bemerkenswertes Ergebnis, so Pollack: «Die Missbrauchsfälle sind ein Männlichkeitsphänomen.» In der katholischen Kirche gebe es nur männliche Geistliche, da lasse sich der Geschlechtervergleich nicht durchführen. In der evangelischen Kirche hingegen könne man ihn machen - das Resultat sei eindeutig. 

Zeitraum von 1946 bis 2020

Für die EKD-weite Studie hatte die westfälische Kirche nach eigenen Angaben Daten über 110 Beschuldigte und 251 Betroffene aus dem Zeitraum von 1946 bis 2020 zur Verfügung gestellt. In dieser Zeit habe es in der viertgrößten deutschen Landeskirche 18 Disziplinarverfahren gegen Pfarrpersonen gegeben.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag will Empfehlungen an Kirche und Diakonie der Missbrauchsstudie übernehmen. Dies gelte für Empfehlungen, die auf den Kirchentag übertragbar seien, erklärte Kirchentags-Generalsekretärin Kristin Jahn am Donnerstag in Fulda. Auch der Kirchentag sei ein Ort für Menschen gewesen, die sexualisierte Gewalt ausgeübt, gedeckt, ermöglicht oder relativiert hätten.

Eine Kirche ohne Sicherheit hat keine Zukunft

Das Wirken dieser Personen, soweit es dem Kirchentag bekannt sei und in der Studie benannt ist, werde derzeit an der Universität Greifswald erforscht. Zur Prävention und dem Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt habe der Kirchentag ein Schutz- und Fürsorgekonzept erarbeitet, sagte Jahn.

Jahn sagte, die Studie mache das Ausmaß von strukturellem und individuellem Versagen der evangelischen Kirche deutlich. Dieses Versagen aufzuarbeiten und Strategien zur Verhinderung sexualisierter Gewalt zu entwickeln, sei die zentrale Aufgabe, forderte Jahn: "Denn eine Kirche, in der Menschen nicht sicher sind, verfehlt ihre Aufgabe und hat keine Zukunft."
 

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist viel höher als bislang angenommen. Laut einer Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht.

Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr (dpa)
Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr ( dpa )
Quelle:
epd , KNA