Was bedeutet es, wenn Missbrauchsopfer an einer Studie mitwirken? Und das nicht als Betroffene in Interviews, sondern schon beim Erarbeiten des Fragebogens. Wie sieht diese partizipative Forschung in der Praxis aus und welche Probleme können auftauchen?
Darüber berichteten Wissenschaftler und Beteiligte bei einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie in Tutzing. Ihre Ergebnisse fließen in die große Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein, die am 25. Januar in Hannover vorgestellt werden soll.
Bei der Tagung gewährten Peter Caspari vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München und seine Mitstreiter vor der offiziellen Präsentation der Studie einen Einblick, was es heißt, wenn Betroffene zu Co-Forschenden werden.
Umfangreiche Expertise
Dafür übernahm das IPP eines von fünf Teilprojekten vom "ForuM - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland".
Die Evangelische Akademie hatte in Kooperation mit der Katholischen Stiftungshochschule geladen, den Stand der Aufarbeitungsforschung zum Thema Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu erörtern. Das IPP bringt umfangreiche Expertise auf diesem Feld mit, unter anderem durch Studien zu Kloster Ettal und der Odenwaldschule.
Dieses Mal wagte das Haus etwas Neues: Betroffene sollten nicht nur zu dem, was ihnen widerfahren ist, in Interviews befragt, sondern "auf Augenhöhe" mit den hauptberuflichen Wissenschaftlern tätig werden. Mittels Auswahlverfahren fiel die Wahl auf Christiane Lange, Horst Eschment und Detlev Zander. Letzterer beendete jedoch seine Mitarbeit wegen auftretender Unstimmigkeiten vorzeitig.
"Viel Distanz zur eigenen Geschichte"
Lange engagiert sich seit Jahren für die Aufarbeitung in ihrer Kirche auf Bayern- und Bundesebene - mit allen Höhen und Tiefen. Denn: "Die Beteiligung berührt auch immer wieder die eigenen Wunden und verlangt viel Distanz zur eigenen Geschichte." Dennoch ist sie überzeugt, wie sie auf der Tagung sagte, dass der Prozess ohne die Erfahrungen und den Blick der Betroffenen nicht gelingen kann.
2021 ging es los. Insgesamt sieben Arbeitstreffen habe es gegeben, sagte Caspari. Überlegt worden sei, wie Betroffene gewonnen werden könnten, um den Wissenschaftlern ihre Geschichte zu erzählen. Eine Pressekonferenz wo Betroffene zum Mitmachen motiviert wurden, habe erkennbar Wirkung gezeigt.
Die Co-Forschenden hätten später aber nicht die Gespräche mit den anderen Betroffenen geführt. Ihre Aufgabe sei gewesen, mit an den Interview-Leitfäden zu arbeiten. Durch sie seien Aspekte eingeflossen, "an die wir vorher nicht gedacht haben", bekannte Caspari.
"Es war eine neue Erfahrung, auch für uns Beteiligte", reflektierte Horst Eschment. Angefangen bei der eigenen Funktion: Werde ich als Betroffener nur als Zubringer oder gleichwertig als "Mitbringender" gesehen? Auch hatte er die Sorge, die Wissenschaftler könnten sie als Eindringlinge in ihre feste Struktur empfinden.
Gerade am Anfang des über eineinhalb Jahre dauernden Projekts habe es eine sehr konstruktive Zeit gegeben, lobte Eschment. Die kritische Phase blieb jedoch nicht aus.
Es fehlten Kommunikation und Transparenz
Auf einmal fehlten ihm und seinen zwei Co-Forschenden ausreichende Kommunikation und Transparenz, als es um die Auswertung der Interviews ging. "Soll ich noch weiter mitmachen?", fragte sich Eschment. Doch das bereits Erreichte sei zu wertvoll gewesen, um es aufzugeben.
Mit Hilfe einer Mediatorin gelang es, wieder zueinanderzufinden. Helga Dill vom IPP ist sich der Schwierigkeiten bewusst: "Partizipative Forschung ist nichts Einfaches, das muss erarbeitet werden." Rollen seien zu klären, eine Balance zwischen Achtsamkeit und Selbstzensur im Umgang miteinander müsse gefunden werden.
Doch die Mühe lohnte sich, sind sich die Beteiligten sicher. "Die forschende Wissenschaft sollte nicht ohne die Überlebenden jener extremen Erfahrungen stattfinden", erklärte Eschment. Partizipation sei ein Potenzial, das die Forschung weiten und beleben könne.
Auch Heiner Keupp, Münchner Sozialpsychologe und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs, plädierte dafür, diese Art der Forschung weiterzuentwickeln. Zugleich bekannte er, es seien die vielen Anhörungen und Gespräche mit Betroffenen gewesen, die auch ihm geholfen hätten, einen anderen Blick auf das Thema zu bekommen.