DOMRADIO.DE: Sie sind eigentlich kein großer Fan des Königshauses. Warum wollten Sie sich trotzdem von der Queen verabschieden?
Pfarrer Andreas Blum (Deutschsprachige katholische Gemeinde St. Bonifatius London): Ich bin weder Brite noch Anglikaner, sodass die Königin oder der jetzige König weder mein Staatsoberhaupt noch mein kirchliches Oberhaupt ist. Aber vor der Person Elisabeth II. habe ich doch sehr großen Respekt.
Sie wurde schließlich auch in eine Rolle hineingeboren, die sie sich nicht ausgesucht hat. Die Art und Weise, wie sie sie über 70 Jahre lang durch all die Höhen und Tiefen sowohl des Königshauses als auch des Vereinigten Königreiches ausgeübt hat, beeindruckt mich schon. Man kann sich in London dieser ganzen Sache im Moment auch nicht entziehen. So entsteht ein Bedürfnis irgendwie teilzuhaben. Deshalb habe ich mich gestern auch aufgemacht.
DOMRADIO.DE: Sie haben sich in die lange Schlange eingereiht. Wie lange haben Sie gewartet?
Blum: Ich gehöre zu den Glücklichen, die es unter sechs Stunden geschafft haben. Im Moment ist die Schlange auf über 14 bis 15 Stunden angewachsen, sodass die Regierung beschlossen hat, sie heute Mittag zu schließen. Das heißt, man kann sich im Moment noch nicht einmal mehr anstellen, um zum Westminster Palace und in die Hall zu kommen.
Mindestens bis heute Abend wird die Schlange geschlossen sein. Ich vermute, diese Nacht wird man dann wieder einen Zugang ermöglichen. Aber das ist schon eine anstrengende Prozedur, bis man dann schließlich vor dem Sarg steht.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie denn die Atmosphäre in dieser Schlange der Wartenden erlebt? Sind Sie da mit anderen ins Gespräch gekommen?
Blum: Ja selbstverständlich. Dieses "queueing" (Anstehen, Anm. d. Red.), wie man das hier in England nennt, das ist auch eine nationale Tugend. An allen Ecken und Enden werden solche Schlangen gebildet und ich habe den Eindruck, es ist auch eine Möglichkeit, mit ganz fremden Menschen in Kontakt zu kommen.
Ich stand nachher in einer kleinen Gruppe, die dann nicht nur das Essen geteilt hat, sondern auch alle möglichen Geschichten. Es waren auch ganz unterschiedliche Nationalitäten: ein Iraner aus Schottland, eine Inderin aus Hampton Court, jemand aus Buckinghamshire und ich dann als Deutscher hier aus Whitechapel.
Man bildet so eine Gemeinschaft. Wir haben wir angestellt, als dann einer verloren ging, weil er sich einen Kaffee holen wollte, um den wieder zu uns in den richtigen Standort der Schlange zu bringen. Es bildet sich eine wirkliche Gemeinschaft mit Menschen, die man sonst wahrscheinlich nicht treffen würde und die man ja auch nachher nicht wiedertrifft. Aber dieser eine Punkt, jetzt in dem Augenblick der Queen den Respekt zu erweisen, der führt dann tatsächlich zusammen.
DOMRADIO.DE: War dann das beherrschende Gesprächsthema? Die Queen?
Blum: Nicht nur. Von Politik über Religion, über Kultur, über Journalismus. Sie haben ja wirklich Zeit. Ob es nun sechs oder 14 Stunden sind, man steht mit den gleichen Menschen in unmittelbarer Nähe. Da ist eigentlich fast kein Thema tabu und das ganze hat auch einen fast schon fröhlichen Picknick-Charakter.
Unsere Gruppe hat noch bis kurz vor dem Palast herzlich gescherzt und gelacht. Diese Stimmung ändert sich tatsächlich in dem Moment schlagartig, wenn man den Palast betritt, diese Stille eintritt und dann die Reflexionen eher in Richtung Tod gehen, sicherlich auch die Erinnerung an eigene Verstorbene, dann aber auch Begegnungen, die man vielleicht mit der Queen hatte.
Man darf nicht vergessen, dass sie im Laufe ihres Lebens nahezu einem Drittel aller Briten, die zurzeit im Land leben, die Hand geschüttelt hat. Das ist eine unglaubliche Zahl von Menschen, die auch Geschichten mit der Queen verbinden. All das beherrscht in dem Augenblick im Angesicht des Sarges dann doch die eigenen Gedanken und nicht wenige haben dann auch Tränen in den Augen.
DOMRADIO.DE: Wie ist das in der Warteschlange mit der Essens- und Getränkeversorgung oder mit dem Aufsuchen einer Toilette?
Blum: Bei 14 Stunden Wartezeit brauchen Sie ja eigentlich fast alles. Das ist wirklich hervorragend organisiert. Es sind Toiletten am Wegesrand aufgebaut. Es gibt immer wieder Geschäfte, die längere Öffnungszeiten haben, aber auch fliegende Händler, die Obst und Sandwiches oder Kaffee und Tee anbieten.
Es gibt sogar ein sogenanntes Faith-Team. Das heißt, Seelsorger sind am Wegesrand stationiert. Ich habe also Rabbiner und Priester – sowohl der anglikanischen als auch der katholischen Kirche – gesehen, die dann für diejenigen zum Gespräch bereitstehen, die von der Trauer oder von der Traurigkeit überwältigt werden.
Man hat an keiner Stelle den Eindruck, dass man in dieser Schlange alleingelassen ist. Bei all dem, was von professioneller Seite nicht gewährleistet werden kann, helfen sich die in der Schlange Stehenden auch gegenseitig. Das ist ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl, was da entsteht, dass im Rückblick diese sechs Stunden fast wie im Flug vergangen sind.
DOMRADIO.DE: Wie war es in der Westminster Hall selbst, wo die Menschen am Sarg der Queen vorbeidefilieren, um gebührend Abschied zu nehmen? Achten die Aufseher auch darauf, dass es nicht zu sehr ins Stocken gerät?
Blum: Erstaunlicherweise habe ich überhaupt keinen Druck erlebt. Als ich die Halle betreten habe, wo in vier Reihen links und rechts am Sarg vorbeidefiliert wird, kam es zu einem Wachwechsel. Alle 20 Minuten werden die Wachen um den Sarg herum gewechselt.
Ich dachte schon, dass ich das verpassen würde, weil ich schon am Sarg vorbei war. Aber wir wurden alle mehr oder weniger aufgefordert stehen zu bleiben und diesem Wachwechsel auch freie Bahn zu machen. Also in dem Augenblick, wo man die Halle betritt, hat man nicht alle Zeit der Welt, aber man hat doch gebührend Zeit, in seinem Tempo am Sarg vorbeizugehen und auch Abschied zu nehmen.
Wir hatten aber auch alle die Tausenden im Hinterkopf, die hinter uns in der Schlange stehen und die auch vorankommen möchten. Deshalb habe ich auch niemanden erlebt, der dann ungebührlich lange vor dem Sarg gestanden hätte.
Das Interview führte Hilde Regeniter.