Lutherischer Bischof Gerhard Ulrich zur Lage im Heiligen Land

"Menschen emigrieren, weil ihre Würde missachtet wird"

Religion wird nach Einschätzung des lutherischen Bischofs Gerhard Ulrich im Heiligen Land auf allen Seiten für politische Zwecke missbraucht. Im Interview erläutert der Landesbischof, weshalb das Heilige Land dennoch Vorbildcharakter hat.

Blick auf Jerusalem und den Tempelberg / © Harald Oppitz (KNA)
Blick auf Jerusalem und den Tempelberg / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Herr Bischof Ulrich, welchen Eindruck haben Sie von der Situation im Heiligen Land?

Ulrich: Wir haben gesehen, wie 50 Jahre Besatzung ihre Spuren hinterlassen. Wir haben erlebt, wie die Menschen unter diesem Druck leben. So ein Zustand kann nicht spurlos an den Seelen der Menschen vorbeigehen. Das hat mit Religion zunächst nicht zu tun, sondern mit dem fehlenden Respekt vor der Würde des Anderen und dem fehlenden Vertrauen in die politische Situation.

KNA: Wie sehen Sie diese politische Situation?

Ulrich: Wir als Deutsche sind froh, das vor 28 Jahren die Mauer gefallen ist. Hier sehen wir eine Mauer, die deutlich höher ist als die Berliner Mauer, und wir wissen, dass Mauern niemals Frieden schaffen. In Hebron haben wir den Eindruck erhalten, dass dort Terror eher produziert als überwunden wird.

KNA: Welche Rolle spielt Religion in diesem Kontext?

Ulrich: Mich beeindruckt ein Satz des palästinensischen lutherischen Pfarrers Mitri Raheb: "Die Menschen hier brauchen nicht mehr Religion, sie ersticken an Religion. Weniger Religion wäre mehr Glaube." Ich glaube, er hat recht für diese Region.

KNA: Nach einer jüngsten Studie spielt Religion bei der Frage nach Abwanderung weder für Muslime noch für Christen eine nennenswerte Rolle. Wie ordnen Sie das ein?

Ulrich: In dieser Region wird Religion für politische Zwecke missbraucht, auf allen Seiten. In Wirklichkeit geht es aber um Macht: das Festhalten an Traditionen, das Okkupieren von Plätzen. Der Streit um den heiligen Berg in Jerusalem macht das sehr deutlich. Religiöse Fragen spielen eine Nebenrolle. Ich kann gut verstehen, wenn Menschen sagen: Ich möchte die Region verlassen, denn es geht um meine Freiheit. Möglicherweise kann ich neu zu meiner Religion finden, wenn ich mich frei bewegen kann.

Wenn ich etwa sehe, dass krebskranke Kinder mit der Großmutter in das Auguste-Viktoria-Krankenhaus des Lutherischen Weltbundes kommen müssen, weil die Eltern wegen ihres Alters keine Genehmigung bekommen, dann ist diese Beschränkung der Freiheit auch eine Verletzung der religiösen Überzeugung.

KNA: Inwiefern?

Ulrich: Zur Heilung gehört nicht nur die Medizin, sondern auch Nähe und Liebe. Das wissen wir als Christen, Muslime, Juden. Es ist ein gemeinsames Wissen, dass die Liebe Gottes durch die Liebe weitergegeben wird, die wir einander geben. Wo das aus politischen Gründen verhindert wird, geschieht Gottesverleugnung. Gott hat uns nicht geschaffen als Juden, Christen, Palästinenser, Deutsche, sondern als seine Geschöpfe. Menschen emigrieren, weil ihre Würde missachtet wird.

KNA: Laut der bereits zitierten Studie ist der Hauptgrund für Abwanderung aber ein wirtschaftlicher...

Ulrich: Das gehört dazu! Arbeit ist nicht nur ein ökonomisches Argument, sondern ist ein Medium, um Würde zu leben. Hier leben viele Menschen, die sich, obwohl sie könnten und wollen, nicht in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen dürfen. Sie können sich nicht frei entfalten. Wenn Gott uns Teilhabe verheißen hat an der Fülle, die er schenkt, gibt es Situationen, in denen ich sagen muss, wenn ich mich frei nicht entfalten kann, dann muss ich weg.

KNA: Sie kommen aus Deutschland mit seiner sehr spezifischen ökumenischen Situation in ein Land mit einer ebenfalls sehr eigenen ökumenischen Situation. Was nehmen Sie von hier mit?

Ulrich: Das selbstverständliche Miteinander von Muslimen, Christen und Juden kann gelebt werden, indem Religionen einander respektieren. Erst wenn wir die Unterschiede richtig wahrnehmen, können wir zu dem kommen, was uns verbindet. Das geschieht hier und daraus lernen wir für Zuhause. Manche Themen, die bei uns ökumenisch wichtig sind, haben hier höchstens eine Nebenrolle.

Hier steht die Frage im Vordergrund, was wir gemeinsam tun können, um Hass zu überwinden, um Menschen bei ihrer Sehnsucht nach Frieden zu begleiten und an der Seite derer zu stehen, deren Leben infrage gestellt wird. Wir schulden der Welt nicht die Teilhabe an schwierigen theologischen Debatten, sondern gemeinsames Engagement für Frieden und den Einsatz an der Seite der Schwachen.

Das haben der Lutherische Weltbund und der Vatikan am 31. Oktober 2016 in Malmö auch international bekräftigt: Wir wollen mehr zusammenarbeiten. Dieses Bewusstsein ist eine Stärke der Ökumene hier vor Ort. Daher ist es lehrreich und heilsam, hier zu sein.

KNA: Der Weltbund und der Vatikan angekündigt, auch den theologischen Dialog weiter zu vertiefen. Wo steht Deutschland diesbezüglich?

Ulrich: Wir haben mit den katholischen Geschwistern verabredet, dass wir bei den Kernpunkten prüfen müssen, ob sie wirklich trennen oder es so etwas wie eine versöhnte Verschiedenheit geben kann. Dazu gehört das Abendmahl. Wir werden nicht ruhen, bis wir die Einladung an den Tisch des Herrn nicht nur hören, sondern auch annehmen können.

Einheit heißt umgekehrt für mich nicht Gleichheit. Jesus sagt: "Herr lass sie eins sein." An dieser Stelle machen wir meist Schluss, aber Jesus spricht weiter: "wie ich eins bin mit Dir." Die Sehnsucht nach der Einheit ist für mich nicht erst dann befriedigt, wenn wir eine gemeinsame Struktur haben.

Andrea Krogmann


Landesbischof Gerhard Ulrich in Jerusalem / © Andrea Krogmann (KNA)
Landesbischof Gerhard Ulrich in Jerusalem / © Andrea Krogmann ( KNA )
Quelle:
KNA
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