Nie war er so wertvoll wie heute. Wer in Corona-Zeiten über einen Balkon verfügt, ist fein raus. Frische Luft, Urlaubsgefühle, ein Grill und vielleicht sogar ein paar Pflanzen, die mitten in der Stadt ein wenig Naturnähe andeuten - und das alles bekommt man, ohne das Haus verlassen zu müssen. Balkonien als Urlaubsland-Ersatz.
Zugleich ist der soziale Stellenwert der Balkone noch gewachsen: Sie sind Orte der Geselligkeit und der Nachbarschaftskontakte geworden. Oder zur Bühne umfunktioniert: Künstler musizieren in luftiger Höhe und sorgen für Ablenkung und gute Laune gegen die Virus-Depression. Bürger singen gemeinsam von Balkonen aus, klatschen und bedanken sich damit bei Pflegekräften und Ärzten. Und ein Plausch von Balkon zu Balkon ist risikolos.
Machtsymbol, Refugium und Freizeitraum
Balkone gibt es schon seit mehreren tausend Jahren. Sie sind mal architektonischer Schmuck, mal Machtsymbol, Refugium und Freizeitraum: Ihre Rolle und Funktion haben sich ständig gewandelt. Schon altrömische Wandmalereien bezeugen, dass an Bauten der Römischen Kaiserzeit überdachte Balkone üblich waren - als Zeichen politischer und wirtschaftlicher Macht und nicht zuletzt als Ort, an dem der Besitzer weit ausladender Latifundien seinen Herrschaftsanspruch repräsentativ geltend machte.
In Indien nutzte man überdachte Holzbalkone mit kunstvoll gestalteten Gitterkonstruktionen, die Schutz vor der heißen Sonne boten. Im arabischen Raum ermöglichten die geschnitzten Gitterbalkone den Frauen eine Öffnung zur Welt, weil sie unbeobachtet dem Leben draußen zusehen konnten.
Die Türken brachten diese Balkone dann seit dem 15. Jahrhundert auch in die Küstenländer des Mittelmeeres. Vor allem in Italien zierten sie ab dem 16. Jahrhundert Balkone die Adelspalazzi - allerdings zunächst vor allem als repräsentatives Element der Fassadengliederung herrschaftlicher Bauwerke. Seit dem 19. Jahrhundert sind Balkone auch im einfachen Volk populär, eine Massenerscheinung, ein zusätzlicher Lebensraum in luftiger Höhe, und auch ein Gartenersatz in den großen Städten.
Vielseiige Balkone
Balkone verwischen Grenzen und sind Scharniere: zwischen den eigenen vier Wänden und dem öffentlichen Raum, zwischen Drinnen und Draußen, Natur und Privatem. Bepflanzt wie ein Garten oder möbliert wie ein Zimmer, bieten sie zusätzliche Optionen. Balkone überschreiten den Grundriss des Hauses, erlauben den Bewohnern aber dennoch, ganz bei sich zu sein. Sie machen es möglich, das tägliche Schauspiel auf der Straße zu verfolgen, fernzusehen gewissermaßen, aber auch, sich selbst zu zeigen. Lange wurden Balkone wegen ihrer repräsentativen Bedeutung zur Straße hin gebaut. Je stärker der Freizeitaspekt in den Vordergrund trat, desto mehr wurden sie zum ruhigeren Innenhof ausgerichtet.
Balkone demonstrieren auch Hierarchien: Wenn Päpste von der Benediktionsloggia des Petersdomes den Segen urbi et orbi spenden. Wenn sich die britischen Royals huldvoll auf dem Balkon des Buckingham Palace präsentieren oder die Bayern auf dem Münchner Rathausbalkon die nächste Fußballmeisterschaft feiern, sind Oben und Unten klar definiert. Wer oben steht, gibt den Ton an und kann sich verständlich machen. Das gilt etwa für jene zwei Balkonreden, mit denen Kaiser Wilhelm II. am 31. Juli und am 1. August 1914 vom Berliner Schloss die Volksmenge auf den Krieg einstimmte.
Balkonszenen prägen sich ein. Die italienische Stadt Verona präsentiert stolz den angeblichen Originalbalkon, auf dem einst Julia gestanden haben soll, ins Selbstgespräch vertieft und von Romeo belauscht: "Ich wollt', ich wär dein Vogel." Dabei handelt es sich allerdings um ein Fake. Denn in Shakespeares Original-Skript der Tragödie taucht Julia lediglich an einem Fenster auf - zur damaligen Zeit waren in Verona Balkone an Bauwerken noch gar nicht üblich. Und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat am 30. September vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag wohl den berühmtesten Halbsatz der jüngeren deutschen Geschichte gesprochen: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...".