Der Münchner Kardinal Reinhard Marx setzt sich für eine Änderung der katholischen Lehre über Homosexualität ein. "Der Katechismus ist nicht in Stein gemeißelt. Man darf auch in Zweifel ziehen, was da drinsteht", sagte Marx dem Magazin "Stern" (Donnerstag). "Ich fühle mich seit Jahren freier zu sagen, was ich denke, und will die kirchliche Lehre weiterbringen."
Vor zwei Wochen hatte sich Marx beim Jubiläum zum 20-jährigen Bestehen von katholischen Queer-Gottesdiensten in München für die Diskriminierung Homosexueller durch die Kirche entschuldigt.
Dem "Stern" sagte er jetzt, noch vor zehn Jahren habe er sich nicht vorstellen können, selbst einen solchen Gottesdienst zu feiern. In dem Gottesdienst warb der Kardinal für eine "inklusive Kirche".
"LGBTQ+ ist Teil der Schöpfung"
Im Interview sprach er sich für eine "inklusive Ethik" aus. "Homosexualität ist keine Sünde. Es entspricht einer christlichen Haltung, wenn zwei Menschen, egal welchen Geschlechts, füreinander einstehen, in Freude und Trauer."
Es gehe um Begegnung auf Augenhöhe und Respekt voreinander. Der Wert der Liebe zeige sich auch darin, "den anderen nicht zum Objekt zu machen, ihn nicht zu gebrauchen oder zu erniedrigen".
Marx sagte, "LGBTQ+-Menschen sind Teil der Schöpfung und von Gott geliebt, und wir sind gefordert, uns gegen Diskriminierung zu stellen". Und: "Wer Homosexuellen und überhaupt mit der Hölle droht, der hat nichts verstanden."
Marx hat gleichgeschlechtliche Paare gesegnet
Der Kardinal erinnerte daran, dass diese Fragen bereits vor sechs Jahren bei der Familiensynode in Rom diskutiert worden seien, "aber es gab Hemmungen, etwas festzuschreiben". Schon damals habe er gesagt: "Da leben Menschen in einer innigen Liebesbeziehung, die auch eine sexuelle Ausdrucksform hat. Und wir wollen sagen, die sei nichts wert? Klar, es gibt Leute, die Sexualität auf Fortpflanzung beschränkt sehen wollen, aber was sagen die zu Menschen, die keine Kinder bekommen können?"
Der Erzbischof bekannte, er habe auch schon gleichgeschlechtliche Paare gesegnet: "Vor einigen Jahren in Los Angeles kamen nach einem Gottesdienst, bei dem ich über Einheit und Vielfalt gepredigt hatte, zwei, die mich treffen wollten und um meinen Segen baten. Das habe ich gemacht. Das war ja keine Trauung. Das Sakrament der Ehe können wir nicht anbieten."
Zugleich deutete Marx an, dass es nicht so einfach werde, zu dem strittigen Thema einen Konsens in der Kirche herzustellen. "In Afrika oder in den orthodoxen Kirchen gibt es zum Teil ganz andere Auffassungen. Es bringt den Menschen nichts, wenn wir uns an dieser Frage spalten, aber wir dürfen auch nicht stehen bleiben."
Marx lebt in "Familie mit eigenem Stil"
In dem Interview erläuterte Marx auch seinen Beziehungsstatus. "Natürlich bin ich – wie jeder andere – ein sexueller Mensch", sagte er. "Ich habe auch eine Sexualität, auch wenn ich in keiner Beziehung lebe." Als Priesteranwärter gab es für ihn "den Reiz, das Liebesleben zu entdecken, aber das andere war für mich stärker".
Auf die Frage, ob er sich nie verliebt habe, antwortete der Kirchenmann: "Zumindest nicht so, dass ich gesagt hätte, für diesen Menschen werfe ich alles hin. Aber natürlich finde auch ich Personen attraktiv, es wäre unaufrichtig, das zu leugnen. Zölibat bedeutet nicht, ohne menschliche Beziehungen zu leben."
Als junger Priester habe er es genossen, allein zu leben. Heute könnte er das nicht mehr. "Es hat seinen Sinn, dass auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift steht: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist." Seinen Haushalt mit einem Kaplan und zwei Ordensschwestern beschreibt Marx als "Familie mit eigenem Stil". - "Wir kennen uns wirklich gut, wissen viel über einander – dennoch siezen wir einander."
Konzept des Gehorsams überprüfen
Mit Blick auf die Organisationskultur der katholischen Kirche sieht Marx große Defizite. "Es darf keine Hierarchie mehr geben, bei der man den Oberen nur nach dem Munde redet", sagte Marx in einem Interview mit dem Magazin "Stern" (Donnerstag). "Das in Teilen falsche Konzept des Gehorsams muss überprüft werden."
Die Kirche müsse "transparenter werden, es muss Teilhabe an der Macht geben, Möglichkeiten zu wirken und zu gestalten". Dabei gelte es auch von der Gesellschaft und den Sozialwissenschaften zu lernen. "Da kann man doch nicht sagen, das steht alles in der Bibel."
Der Münchner Kardinal reklamierte für sich, in dieser Hinsicht schon dazugelernt zu haben. Er habe vor einigen Jahren eine anonymisierte Umfrage unter den Führungskräften im Erzbistum machen lassen. Dabei sei auch gefragt worden, wie sie den Bischof sehen und wo es Defizite gebe. "Das war erhellend", sagte Marx, ohne auf die Antworten im Detail einzugehen.
"Bei mir kommt es vor, dass ich die Leute mit meiner Redseligkeit überrolle", so der Kardinal. "Da muss ich aufpassen und mir sagen: Nun hör auch mal zu!" Eine solche Feedback-Kultur sei in der Kirche "aber wohl nicht sehr verbreitet".
Marx traut Papst "ungewöhnliche Zeichen" gegen den Krieg zu
Im Ukraine-Krieg traut Marx Papst Franziskus zu, "auch ungewöhnliche Zeichen zu setzen". Er bekomme zu dem Thema gerade viele Briefe, erzählte Marx dem Magazin "Stern" (Donnerstag) in einem Interview. "Da schreiben Leute zum Beispiel, der Papst soll mit dem Hubschrauber nach Mariupol fliegen, dann würden die Waffen schweigen."
Franziskus habe den Krieg "klar verurteilt", fügte der Erzbischof hinzu. "Ich vertraue darauf, dass der Papst gut überlegt, was er tun kann." Ängstlich sei er jedenfalls nicht.