DOMRADIO.DE: Was kann der Roman Judas von Amos Oz zum Verständnis der jetzigen Situation im Nahen Osten beitragen?
Max Moor (Fernsehmoderator und Autor): Ich weiß nicht, ob er etwas zum Verständnis beitragen kann, in dem Sinne, dass man nach der Lektüre den Nahostkonflikt auch versteht. Aber er kann auf jeden Fall etwas zur Erinnerung beitragen.
Ich habe in Vorbereitung auf den Abend am Donnerstag das Buch noch mal in Gänze gelesen und mich hat es umgehauen, als ich merkte, wie unglaublich aktuell das ist, wie unlösbar dieser ganze Konflikt ist, was es an unglücklichen Umständen gegeben hat und wie groß dieses gegenseitige Misstrauen ist.
In diesem Buch gibt es eine Figur, die zwar nicht mehr lebt, über die aber viel gesprochen wird. Die hatte die Vision, dass man Staaten abschaffen muss und dass Grenzen, Militärs und Souveränität eigentlich des Teufels sind, dass man versuchen sollte, in Gemeinschaften zusammenzuleben, viel miteinander zu reden und viel miteinander zu handeln. Das ist natürlich alles völlig illusorisch. Es gibt keine Lösung, das ist vielleicht die Erkenntnis aus diesem Buch. Es gibt sie einfach nicht. Und das ist auch das, was zugleich so unglaublich dramatisch und traurig ist.
DOMRADIO.DE: Es ist auch ein hellsichtiger Roman, der uns hilft, die Geschichte des Landes mit all diesen Hoffnungen und Verzweiflung, die es gibt, zu verstehen.
Moor: Und auch den Ungerechtigkeiten. Ein Schlüsselmoment ist für mich, wenn eine Figur sagt, dass die Araber und die Juden gleichermaßen auf sehr verschiedene Weise Opfer des europäischen Christentums und des europäischen Kolonialismus geworden sind; dieses Machtanspruches oder Wahrheitsanspruch, den wir Europäer einfach haben.
Das wäre eigentlich ein Grund für gegenseitiges Verständnis und gegenseitigen Respekt. Sie hätten historisch gesehen eigentlich wahnsinnig viele Gründe, sich zu verbünden.
DOMRADIO.DE: "Judas", heißt der Roman, wie derjenige, der Jesus im Neuen Testament verraten hat. Welche Rolle spielt dieser Titel?
Moor: Die Hauptfigur ist ein junger Student, der versucht eine Abhandlung über Judas zu schreiben und darüber, was passiert wäre, wenn das Judentum Jesus akzeptiert und nicht abgelehnt hätte. Und es geht um die große Frage, ob Judas Christus tatsächlich verraten hat und ob Judas ein Synonym für Jude und für den Verräter schlechthin ist, für alle wohlerzogenen Christenmenschen und was es mit diesem Vorurteil auf sich hat.
Es gibt auch die Behauptung von einer Figur, die sagt, dass dieser Konflikt mit den Arabern eine Episode in der Geschichte ist, die in 50, 100 oder 200 Jahren vergessen sein wird. Aber der Konflikt mit den Christen geht wirklich tief, weil ihnen quasi mit der Muttermilch eingeimpft wird, dass die Nachfolger der Menschen, die Gott umgebracht haben, immer noch auf diesem Planeten rumlaufen. Solange das so ist, werden die Juden keine Ruhe haben. Es gibt natürlich zu denken, was diese religiösen Urkonflikte zwischen Judentum, Christentum und Islam bewirken.
DOMRADIO.DE: Wie ist es für Sie, dem Roman von Amos Oz Ihre Stimme zu geben und damit auch diesem besonderen Autor, der Mitbegründer der Friedensbewegung in Israel und ein Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung war?
Moor: Es gibt immer ein gutes Gefühl, einen Text vorlesen zu dürfen, der von einer umfassenden Intelligenz und Respekthaftigkeit geprägt ist, auch mit der bitteren Erkenntnis, dass es eben keine Heilung gibt.
DOMRADIO.DE: Jetzt lesen Sie aus diesem Roman nicht auf irgendeiner Bühne, in irgendeinem Theater, sondern im Bonner Münster, einer ganz besonderen Kirche. Inwieweit passt Judas von Amos Oz damit zusammen?
Moor: Die Christen und die Juden haben eine gemeinsame Geschichte, die sehr dramatisch und für die Christen nicht gerade ruhmreich ist. Letztendlich haben alle diese drei abrahamitischen Weltreligionen ähnliche Wurzeln und einen ähnlichen Moralanspruch.
Leider haben alle drei auch einen Wahrheitsanspruch und insofern ist es natürlich gut, dass in einer christlichen Kirche ein Text vorgetragen werden wird, der von jüdischen und islamischen Mentalitäten und Konflikten handelt, ein Ur-Zusammenhang dieser drei Religionen meines Erachtens.
DOMRADIO.DE: Wie ist es für Sie in einer Kirche im Bonner Münster zu lesen, in der sonst ausschließlich fast nur Gottesdienste stattfinden?
Moor: Ich fürchte mich vor der Akustik. Pfarrer und Priester haben, wie wir alle wissen, eine ganz besondere Sprechweise, die sehr speziell ist, aber nicht geeignet ist, um Texte vorzutragen. Ich kann ja nicht die ganze Zeit so lesen, dann würde die Lesung drei Stunden dauern. Das ist eigentlich meine größte Angst.
Ansonsten freue ich mich einfach auf die Menschen, die ins Bonner Münster kommen und sich das anhören. Der Text ist wirklich unfassbar gut.
DOMRADIO.DE: Sie sind ein routinierter Moderator und moderieren schon seit Jahren das Kulturmagazin "Titel, Thesen, Temperamente" in der ARD. Sind Sie besonders aufgeregt, wenn Sie in so einer berühmten Kirche auftreten?
Moor: Es ist ein besonderer Moment, aber ich bin, offen gestanden, immer vor jedem Auftritt aufgeregt, egal welchem. Beim Fernsehen ein bisschen weniger als bei Liveauftritten. Aber es bleibt immer etwas Besonderes.
Natürlich liegt man bei so einem Anlass nachts etwas länger wach und denkt sich: Was kann ich beitragen? Bin ich gut vorbereitet? Das ist bei mir noch genauso, wie zu der Zeit als ich 20 Jahre alt war. Die Aufregung hört nicht auf.
Das Interview führte Johannes Schröer.