Tom und Maren küssen sich zärtlich, dann halten sie sich lange eng umschlungen. Ein inniges Bild. Gerade hat das Paar, etwa um die 50, gemeinsam eine Kerze angezündet. Für die beiden ist das mehr als nur ein symbolischer Akt. "Für mich geht ein anstrengendes Jahr zu Ende, das bereits schlecht begonnen hatte", resümiert Maren.
Erst nach einem längeren Klinikaufenthalt wegen psychischer Probleme habe sich alles nochmals komplett gedreht. Mit der Kerze wolle sie sich bedanken, dass sie nun Licht am Ende des Tunnels sehe und gleichzeitig ihre Verbundenheit mit Gott ausdrücken. "In dieser schweren Zeit habe ich oft gespürt, dass er mich begleitet, aus schwierigen Situationen herausgeholt hat. Wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, dass es da jemanden gibt, hätte ich es so nicht geschafft."
Gesundheit erbitten
Fitim Latifi und Vera Hkarenenko stammen gebürtig aus Albanien, sind nun aber für zwei Tage aus Belgien zu Besuch in Köln und hatten geplant, das Wahrzeichen der Stadt einmal von innen zu sehen. Die Enttäuschung, nun vor verschlossenen Türen zu stehen und von den Domschweizern nach mehrmaligem Nachfragen immer wieder abgewiesen zu werden – wenn auch mit ernsten Erläuterungen zu der massiven Polizeipräsenz auf der Domplatte – ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber das hält sie nicht davon ab, ebenfalls eine Kerze anzuzünden. "Damit wir gesund bleiben", begründet Vera. "Für ein gutes Leben", ergänzt Fitim, der Muslim ist und dem dieses Ritual gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin viel bedeutet, wie er erklärt.
"Auch in unserem Glauben spielt Licht eine große Rolle, von daher sind Kerzen für uns sehr wichtig", erläutert Özlem Akgül, Alevetin und gebürtig aus Anatolien. Sie zündet zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Cousine eine Kerze am Dom an. "Warum nicht", argumentiert sie. "Jesus Christus ist für uns ein Prophet. Meine Mutter hat zuhause ein großes Bild von ihm stehen. Mit meiner Kerze verbinde ich die Bitte um Liebe für die ganze Welt. Das ist mein Wunsch für 2024."
Politik und Glaube auseinanderhalten
Licht bringe Lebendigkeit, argumentiert eine Frau, gebürtig aus dem Iran. Ihren Namen will sie nicht sagen, betont aber, dass sie dem Christentum inzwischen näher stehe als dem Islam, in dem sie groß geworden ist. "Kein Glaube sollte der eigenen Entfaltung Grenzen setzen und unfrei machen. Außerdem muss man Politik und Glaube auseinanderhalten", unterstreicht die 52-Jährige, die seit 38 Jahren in Deutschland lebt. "Ich bitte um Gesundheit und bete für Freiheit und Frieden – auch in der Gesellschaft, aus der ich ursprünglich stamme."
"Mein Vater würde heute seinen 89. Geburtstag feiern. Meine Kerze stelle ich im Gedenken an ihn und meinen vor 24 Jahren tödlich verunglückten Bruder auf", erzählt Matthias Schmitz aus Bornheim. Er nimmt an einer Krippenführung durch Köln teil und hätte noch lieber als vor dem Dom in der Kirche selbst eine Kerze entzündet. Aber er findet, dass das Kerzenbüdchen eine "schöne Alternative" ist und der momentanen Situation eben angepasst.
Lukas ist mit seiner Schwester und den Eltern zum ersten Mal in Köln. Familie Robert lebt an der deutsch-holländischen Grenze. Der Zwölfjährige stellt eine Kerze für seine Großmutter auf, die am Silvestertag vor zwei Jahren gestorben ist. Er verbindet damit den Wunsch, dass es der Oma da, wo sie jetzt ist, gut gehen möge, sagt er. Im letzten Jahr seien sie in Hamburg zu Silvester gewesen und hätten im Michel eine Kerze für sie aufgestellt. "Mit dieser Kerze denke ich ganz fest an sie", so Lukas.
Ein Licht für die Lieben
Martina und Michael Szesny sind aus Bergheim nach Köln gekommen. "Wenn wir im Dom sind, zünden wir immer eine Kerze für unsere Lieben an. Das gehört für uns dazu." Ihr persönlicher Glaube sei zwar nicht unbedingt ein kirchlich konfessioneller im klassischen Sinn. "Eher glaube ich an eine höhere Macht, an irgendetwas da oben", skizziert Marina Szesny.
Aber natürlich verknüpfe sie mit diesem entzündeten Licht auch die Bitte um Frieden. "Man kann eh nicht verstehen, dass sich die Menschen gegenseitig die Köpfe einschlagen, um damit ihre Machtgebaren zu demonstrieren. Das finde ich ganz schrecklich", kommentiert sie die aktuellen Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten.
"Früher bin ich mit meinem Mann immer am Heiligabend in die Frühmesse in den Dom gegangen. Seit er vor vier Jahren verstorben ist, mag ich alleine nicht mehr gehen, entzünde aber immer am Ende des Jahres im Dom eine Kerze im Gedenken an ihn", berichtet Rita Clever, die von ihrer ehemaligen Kollegin und Freundin Angela Schneider begleitet wird. "Ich habe diese Tradition von meiner Mutter übernommen", erläutert diese. "Immer wenn sie in einer Kirche war, gehörte das Kerzeanzünden ganz selbstverständlich mit dazu."
Anna aus Odessa kann sich nur mit einer Übersetzungsapp verständlich machen. Die junge Frau in einem üppigen Pelzmantel dokumentiert mit ihrem Smartphone ihre brennende Kerze und schickt sie per Knopfdruck in die Heimat. "Ich danke für alles, was gut ist in meinem Leben", sagt die zu Anfang des Krieges nach Deutschland geflüchtete Ukrainerin. "Vor allem aber bete ich um Frieden in meinem Land." Ihr bricht die Stimme, dann wendet sie sich ab.
Sehnlichster Wunsch nach Frieden für das ukrainische Volk
"Wir sind dankbar, in Deutschland, wo der Krieg weit weg zu sein scheint, leben zu dürfen." Olena kämpft mit den Tränen, als sie nach der Hand ihres Mannes Zenovij greift. Das Paar stammt aus Charkiw, wohin es erst einmal nicht mehr zurückkehren will, aber auch nicht kann. "Wir haben alles verloren, auch liebe Verwandte, jetzt haben wir nur noch uns. Wohin sollen wir zurück – in ein zerbombtes Haus, in ein Leben mit Todesgefahr?", fragen sie verzweifelt.
"Es tut so furchtbar weh, Bilder einer zerstörten Stadt zu sehen, in der wir einmal glücklich waren und uns eine Zukunft aufbauen wollten." Natürlich wünschten sie sich nichts sehnlichster als Frieden für das ukrainische Volk. "Aber einen Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit. Dafür stehen wir hier und beten mit einer Kerze in der Hand. Unsere Soldaten müssen diesen Krieg gewinnen. Die unzähligen Opfer – auch in der Zivilbevölkerung – und der Verlust von Heimat dürfen nicht umsonst gewesen sein."
"Wenn die Menschen nicht zur Krippe kommen, kommt die Krippe eben zu ihnen", stellt Dombaumeister Peter Füssenich fest. Sichtlich zufrieden registriert er, dass das alternative und aus der Not heraus geborene Angebot für die vielen Touristen aus aller Welt, aber auch für die Einheimischen, die gewohnheitsmäßig zur Jahreswende einen Krippenbesuch planen oder vor der Schmuckmadonna im Kölner Dom eine Kerze anzünden, draußen vor dem Hauptportal funktioniert. Wie schon zu Weihnachten beobachtet er auch an den letzten Tagen des Jahres, dass die Menschen dankbar sind, dass es diesen Ort, dessen Wände mit großformatigen Detailfotos der Heiermann-Domkrippe ausgestaltet sind, für einen kurzen Moment des Innehaltens gibt.
Botschaft der Kölner Domkrippe geht in die Welt
Manche machen ein Kreuzzeichen, während sie das kleine Licht in die Kerzenhalterung stellen und sprechen stumm ein Gebet, andere filmen sich beim Anzünden der Kerze oder machen von sich mit der Krippendarstellung im Hintergrund ein Selfie. Die Botschaft der Kölner Weihnachtskrippe geht hinaus in alle Welt – wenn auch diesmal unter deutlich veränderten Vorzeichen. Denn die Terrorwarnung für den Dom, die noch einmal zu einer vielfachen Verstärkung der Polizei- und Sicherheitskräfte zu Silvester in der Zone rund um den Dom geführt hat, macht mit einem Mal greifbar, dass kriegerischer Wahnsinn doch nicht so weit weg ist.
Auch Domdechant Robert Kleine kommt regelmäßig am Kerzenbüdchen vorbei, zündet selbst eine Kerze an und freut sich, dass diese "Notlösung" so gut angenommen wird. Er mischt sich unter die quirlige Menge der vielen Menschen, sucht das Gespräch, wird nicht müde zu erklären, warum diese Schutzmaßnahmen sein müssen, und wirbt um Verständnis. Denn noch immer gibt es Touristen, die die Gründe hinter dieser Aktion nicht mitbekommen haben.
Kleine verweist auf die Polizisten und Domschweizer im Krippengeschehen an der Wand des kleinen Holzhauses, das unmittelbar unter dem Südturm steht, und würdigt besonders deren Einsatz in der vergangenen Woche. "Unser aller Dank gilt denen, die seit letztem Samstag mit großem Engagement diese Ausnahmesituation managen, die auf ihr eigenes Weihnachtsfest verzichtet haben, um ihren Dienst zu tun und für unsere Sicherheit zu sorgen." Ausdrücklich lobt er die "tolle Zusammenarbeit" mit der Polizei.
In seiner ganzen Geschichte sei der Dom noch nie so gut bewacht gewesen, ergänzt Dombaumeister Füssenich. Trotzdem wünschen sich beide für das anbrechende Jahr 2024, dass baldmöglichst wieder Normalität einkehrt rund um die Kathedrale und das Kerzenbüdchen dann ausgedient hat.