Giffey über Kinder, Kirche und Krisen in Ostdeutschland

"Menschen fühlen sich abgehängt und ungerecht behandelt"

Als Familienministerin hat Franziska Giffey bereits einige Gesetze auf den Weg gebracht. Im Interview berichtet sie von weiteren Vorhaben, ihrer Sorge um Ostdeutschland und ihrer Kritik am Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchstätern.

Bundesministerin Franziska Giffey / © Harald Oppitz (KNA)
Bundesministerin Franziska Giffey / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Das "Gute-Kita-Gesetz" ist in Kraft. Mit fünf Bundesländern gibt es Verträge. Geld fließt aber erst, wenn Verträge mit allen vorliegen. Rechnen Sie noch in diesem Jahr damit?

Franziska Giffey (Bundesfamilienministerin /SPD): Ja, natürlich. Wir sind im Plan und arbeiten intensiv daran.

Es war von Anfang an klar, dass einige Länder ihre Zeit brauchen - zum Beispiel auch für Kabinettsbeschlüsse oder wegen eigener Kitagesetze. Wir denken, dass wir im Herbst alles unter Dach und Fach haben, und dann fließt auch das Geld. Es kann rückwirkend für Maßnahmen seit dem 1. Januar genutzt und auch in das kommende Jahr übertragen werden. Es geht also nichts verloren.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Länder im Schnitt etwa zwei Drittel der Mittel für Qualität verwenden und ein Drittel für Beitragssenkungen. Das zeigt, dass wir mit dem Gesetz beides in einem ausgewogenen Verhältnis schaffen: Wichtige Investitionen für mehr Qualität und für weniger Gebühren.

KNA: Ein anderes familienpolitisches Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag ist der Ganztagsanspruch in Grundschulen. Wann werden Sie den Gesetzentwurf vorlegen?

Giffey: Vereinbart ist der Rechtsanspruch bis 2025, das ist ein ambitioniertes Ziel. Es ist keine leichte Aufgabe, denn das geht nur gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Im Koalitionsvertrag ist dieses Vorhaben als prioritär benannt. Zwei Milliarden Euro sind dafür eingeplant. Im nächsten Haushalt für 2020 ist die erste Milliarde vorgesehen. Das sind Investitionsmittel für die Länder, die damit zum Beispiel Räume für die Betreuung oder das Mittagessen schaffen können.

Die Situation in der Ganztagsbetreuung ist regional sehr unterschiedlich: Im Osten sind meist über 90 Prozent der Kinder im Hort, im Westen ist das bei Weitem nicht überall so. Aber wir sehen, dass viele Eltern sich das wünschen. Es ist eine Frage von Vereinbarkeit von Familie und Beruf - aber auch von Chancengerechtigkeit.

KNA: Zu Ihren weiteren Anliegen gehört auch die Bekämpfung von Missbrauch an Kindern. Viele Opfer sind nun enttäuscht, weil das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte neue Opferentschädigungsgesetz nach ihrer Ansicht keine Verbesserungen für sie bringt. Stattdessen wurden die sogenannten ergänzenden Hilfen, die eigentlich als Provisorium gedacht waren und die als Fonds aufgelegt wurden, verlängert.

Giffey: Es geht in erster Linie darum, den Opfern zu helfen. Dafür brauchen wir beides, Verbesserungen im sozialen Entschädigungsrecht und ergänzende Hilfen. Für viele von sexualisierter oder häuslicher Gewalt oder von Menschenhandel Betroffene ist es schwer, Hilfe zu bekommen. Mit der Reform des Entschädigungsrechtes werden wir spürbare Verbesserungen erreichen. Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt, mit dem das Bundeskabinett die enorme Last und das Leid von Betroffenen anerkennt.

Wichtig ist zum Beispiel die Beweiserleichterung. Künftig wird es einfacher sein, klar zu machen, dass bestimmte körperliche und psychische Beeinträchtigungen Folge von Missbrauch sind. Und künftig soll auch ohne eine Strafanzeige ein Antrag auf soziale Entschädigung möglich und aussichtsreich sein. Aber auch die zusätzlichen Leistungen des Fonds Sexueller Missbrauch werden weiterhin gebraucht.

Deshalb bin ich froh, dass wir in den Haushaltsverhandlungen erreicht haben, dass der Fonds fortgeführt und die Beantragung vereinfacht und verbessert wird.

KNA: Sie haben den Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchstätern kritisiert. Was vermissen Sie?

Giffey: Die Kirche muss endlich bundesweit eine klare Struktur für die Aufarbeitung schaffen. Opfer müssen angehört werden und ihre Akten einsehen können. Das Allerschlimmste für Betroffene ist, wenn sie erleben müssen, dass ihre Täter immer noch in Amt und Würden sind. Da muss sich die katholische Kirche klarer positionieren: Wer eine so furchtbare Tat an Kindern begeht, hat in keinem Amt der Kirche mehr etwas zu suchen, auch nicht in der Verwaltung eines Bistums. Das muss als rote Linie auch ein Signal an die Täter sein.

KNA: Ein anderes Gesetz, das derzeit auch von Frauen aus der SPD kritisiert wird, ist das Prostituiertenschutzgesetz. Kritiker sagen, das Gesetz erreiche die Frauen in Notlagen nicht. Sie treten für das nordische Modell ein, das ein vollständiges Verbot von Prostitution vorsieht.

Giffey: Es ist Augenwischerei zu sagen, etwas verschwindet, nur weil man es verbietet. Ein Verbot schafft die Realität nicht ab. Vieles wird sich dann wieder mehr im Verborgenen abspielen. Das Gesetz ist erst zwei Jahre in Kraft, es ist viel zu früh, um eine abschließende Bewertung abzugeben. Es ist das erste Gesetz zum Schutz der Frauen, und auch der Männer, die in der Prostitution arbeiten.

Die Anmeldezahlen sind bisher noch eher niedrig, allerdings sind wir noch in einer frühen Phase. Das Gesetz muss nach und nach in der Praxis umgesetzt werden. Da muss auch Vertrauen zu den Behörden wachsen. Das Gesetz trägt dazu bei, Menschen vor sexueller Ausbeutung und den damit verbundenen physischen und psychischen Gefahren zu schützen.

KNA: Als jemand, der aus Brandenburg kommt, liegen Ihnen die Probleme in Ostdeutschland am Herzen. Was ist nach der Wende falsch gelaufen? Warum fühlen sich offenbar viele dort als Bürger zweiter Klasse und werden zu Protestwählern, die auch den Rechtsextremismus erstarken lassen?

Giffey: Rechtsextremismus, rechtes Gedankengut, Populismus, Hass und Hetze sehen wir im ganzen Land, nicht nur im Osten. Zugleich sehen wir aber, dass an bestimmten Orten in Ostdeutschland diese Phänomene verstärkt auftreten. Das besorgt mich zutiefst. Ich glaube, dahinter steht eine Mischung aus Enttäuschung, aber auch aus Angst vor Veränderung, vor Umbrüchen und vor dem Verlust von Erreichtem.

Daneben gibt es real weiterhin unbestreitbar große Unterschiede, etwa bei Löhnen, der Wirtschaftskraft und der sozialen und ökonomischen Infrastruktur. In Spitzenpositionen in Wirtschaft und Behörden muss man nach wie vor nach Ostdeutschen suchen. Da kann ich schon nachvollziehen, dass Einige sich abgehängt und ungerecht behandelt fühlen.

KNA: Wäre es eine Chance, darauf noch mal besonders bei den anstehenden Feiern zum 30. Jahrestag des Mauerfalls einzugehen?

Giffey: Ich finde wichtig, dass man bei den ganzen Feierlichkeiten hervorhebt, was geschafft wurde, dass man auch Lebensgeschichten wertschätzt und anerkennt. Wie es Menschen gelungen ist, mit den Brüchen in ihrem Leben umzugehen, noch einmal neu anzufangen und die Entwicklung im Land mit zu gestalten.

KNA: Was bedeutet dieser Tag persönlich für Sie?

Giffey: Bei aller Kritik und allen Problemen ist die deutsche Wiedervereinigung für mich der Glücksfall des letzten Jahrhunderts. Auch die EU-Osterweiterung hätte es ohne die deutsche Wiedervereinigung nicht gegeben. Das ist für uns, die wir heute Politik machen, auch ein Stück weit politisches Erbe - ein demokratisches und geeintes Europa für dessen Erhalt weiter gestritten und gekämpft werden muss.

KNA: Sie sind seit gut einem Jahr in der Bundespolitik, zuvor waren Sie Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Wie hat Sie der Bezirk geprägt?

Giffey: Meine Neuköllner haben mir beim Abschied gesagt: "Bitte vergessen Sie uns nicht!" Das beherzige ich. Die Alltagssorgen der Menschen vor Ort - gerade auch im sozialen Brennpunkt spielen bei dem, was ich jetzt tue, eine große Rolle. Das zeigt sich sowohl bei unserem "Gute-Kita-Gesetz" als auch beim "Starke-Familien-Gesetz".

Zudem habe ich Rixi, den Buddy-Bär von Neukölln, im Kleinformat auf meinem Schreibtisch stehen. Der erinnert mich jeden Tag daran.

KNA: Die SPD sucht auch einen Vorsitzenden oder eine Vorsitzende. Haben Sie sich entschieden zu kandidieren?

Giffey: Mir geht es vor allem darum, dass wir einen guten Weg für die SPD finden. Es geht um viel und daher ist das keine leichte Entscheidung, die man über das Knie bricht - für niemanden. Mit Sicherheit kann ich sagen, dass ich meinen Beitrag für die Erneuerung und eine gute Entwicklung der SPD leisten werde.

KNA: Gibt es Neuigkeiten zu Ihrer Doktorarbeit?

Giffey: Nein, es gibt noch keine Entscheidung der FU Berlin. Da müssen wir uns in Geduld üben.

KNA: Jetzt steht erst mal Urlaub bei Ihnen an. Wie und wo können Sie sich entspannen?

Giffey: Besonders gerne bei der Gartenarbeit und am Meer. Als Urlaubslektüre stecke ich ein Buch ein, das mir vor kurzem geschenkt wurde. Der Titel lautet "Das Cafe am Rande der Welt" von John Strelecky - eine Erzählung über den Sinn des Lebens.

Das Interview führten Birgit Wilke und Alexander Riedel.


Bischof Peter Kohlgraf in seinem Ornat / © Harald Oppitz (KNA)
Bischof Peter Kohlgraf in seinem Ornat / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA