Danach kam es zu weniger physischen Angriffen oder gezielten Bedrohungen. Dafür nahmen Beschimpfungen und andere antisemitische Äußerungen deutlich zu - vor allem im Zusammenhang mit der Pandemie. In der Summe dokumentierte Rias mit 1.909 Vorfällen rund 450 mehr als im Vorjahr, als der Verband zum ersten Mal bundesweite Zahlen präsentiert hatte.
Angriff mit dem Spaten
In den Bericht für 2020 flossen vor allem systematische Erhebungen aus Bayern, Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein ein - wo es regionale Meldestellen mit. Hinzu kamen weitere Fälle aus den übrigen Bundesländern. Darunter war erneut auch eine extreme Gewalttat: der Angriff mit einem Spaten auf einen 26-jährigen Studenten Anfang Oktober in Hamburg auf dem Weg zur Synagoge.
"An vielen Tatorten fehlten die Begegnungen"
Dass es insgesamt zu weniger Angriffen und Bedrohungen kam, führt Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz darauf zurück, dass es dafür in der Pandemie weniger Möglichkeiten gegeben habe. Leere Fußballstadien, geschlossene Restaurants, Clubs und Schulen, kaum Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr - an vielen üblichen Tatorten fehlten schlicht die Begegnungen.
Dafür rückten Demonstrationen und Internet in den Fokus: Mehr als ein Viertel (489) der erfassten Beschimpfungen, Kommentare und Äußerungen hatte einen direkten Bezug zur Pandemie. "Die Covid-19-Pandemie stellte von Beginn an eine Gelegenheitsstruktur, quasi einen Anlass zur Artikulation schon zuvor vorhandener antisemitischer Haltungen dar", sagt Steinitz.
Unsägliche Vergleiche
Allein in 284 bekannten Fällen wurden antisemitische Inhalte auf Demonstrationen verbreitet. So sei die Schoah durch Vergleiche der staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen mit der Judenverfolgung der Nazis bagatellisiert worden. Teilnehmende der Demonstrationen stellten sich selbst als Opfer dar.
Andere verbreiteten verschwörungsideologische Erzählungen, etwa zur vermeintlichen Herkunft des Virus. Diese anhaltende Dynamik präge den Alltag von Juden in Deutschland spürbar, sagt Steinitz. "Im Zuge solcher antisemitischer Dynamiken werden die Sagbarkeitsgrenzen auch in der Mitte der Gesellschaft ausgedehnt", warnt er.
"In der Corona-Krise sehen wir eine bedrohliche Normalisierung von Antisemitismus, aber auch Rassismus, Medien- und Wisschaftsfeindlichkeit, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Teilhabe der Angegriffenen bedrohen." Diese Grenzverschiebungen würden nie wieder auf den Zustand vor Beginn einer solchen Dynamik zurückkehren.
Wie im Vorjahr konnten auch 2020 rund die Hälfte der von Rias erfassten Fälle keinem eindeutigen politischen Hintergrund zugeordnet werden. Rund ein Viertel (479) wurden als rechtsextremistisch oder rechtspopulistisch gewertet, weitere 247 dem verschwörungsideologischen Milieu zugerechnet.
Israelbezogener Antisemitismus
Israelbezogener Antisemitismus spielte eine geringere Rolle. Allerdings könnte dies aus Sicht des Verbands nur eine Momentaufnahme gewesen sein, da es im Mai 2021 anlässlich des Nahost-Konflikts auch in Deutschland zu zahlreichen offen antisemitischen Demonstrationen sowie Angriffen auf jüdische Personen und Institutionen gekommen sei.
Generell ist die Bilanz von Rias noch mit großer Vorsicht zu betrachten. "Wir müssen nach wie vor von einem erheblichen Dunkelfeld uns nicht bekannter Vorfälle im gesamten Bundesgebiet ausgehen", sagt Steinitz. Das zivilgesellschaftliche Meldesystem für antisemitische Vorfälle befindet sich weiterhin im Aufbau.
Meldestelle in Berlin bereits seit 2015
Im aktuellen Bericht entfielen mit rund 1.000 Vorfällen mehr als die Hälfte auf Berlin, wo es bereits seit 2015 eine Meldestelle gibt, aber auch viele ansässige Institutionen zur Zielscheibe werden. Weitere Bundesländer sollen in den künftigen Berichten systematisch einbezogen werden.
Dann dürften die Zahlen vermutlich deutlich nach oben schnellen, da Rias auch Fälle erfasst, die nicht bei der Polizei angezeigt werden. Bundesweit zählten die Sicherheitsbehörden 2020 allein 2.351 antisemitisch motivierte Straftaten im Bereich der Hasskriminalität.