KNA: Herr Erzbischof, Deutschlands Südwesten steht eher für geordnete Verhältnisse. Als Misereor-Bischof sind Sie in dieser Woche quasi von einer Welt in eine andere gesprungen. Was sind Ihre prägendsten Eindrücke aus dem armen Land Madagaskar?
Stephan Burger (Erzbischof von Freiburg): Eindeutig die Begegnungen mit den Menschen. Es hilft ja nichts, uns etwas nur in der Theorie anzuschauen; wir wollen mit den Menschen in Kontakt kommen, denen unsere Hilfsprojekte gelten - und sehen, was das bei ihnen bewirkt. Ich bin sehr dankbar zu erleben, wie man dort mit nach unserem Verständnis relativ wenig Geld ziemlich viel erreichen kann; wie Menschen in ihrer existenziellen Notlage unterstützt werden können; wie ihnen gerade im Bereich Bildung geholfen werden kann.
KNA: Haben Sie ein Beispiel?
Burger: Ich denke etwa an eine Gruppe von Hilfslehrern im Hochland von Madagaskar, die selbst sehr wenig haben und trotzdem unter einfachsten Verhältnissen und mit großem Einsatz versuchen, den Kindern in entlegenen Dörfern Schulbildung zu bringen. Wir haben dort eine Miniaturdorfschule besucht, wo uns die kleinen Schülerinnen und Schüler mit ihren Eltern auf engsten Raum ganz herzlich willkommen geheißen haben. Die Fröhlichkeit, die Offenheit und auch Dankbarkeit, die uns dort entgegengebracht wurde - das nehme ich als eine Erinnerung mit.
KNA: Madagaskar ist ein Land mit vielen Problemen: Überbevölkerung, Klimawandel, rapider Entwaldung. Welche konkreten Potenziale zum Umsteuern haben Sie gesehen?
Burger: Potenzial ist ganz viel vorhanden - die vielen jungen Menschen hier wollen ja etwas erreichen in ihrem Leben. Erschreckend ist allerdings, wie sie dabei von der Politik ausgebremst werden; zu sehen, wie die Politiker hier es nicht schaffen - oder nicht schaffen wollen -, dass diese jungen Menschen ihr Potenzial auch entfalten können, ihre Zukunft gestalten und damit auch das Land nach vorn bringen und aufbauen.
KNA: Wie haben Sie in diesem Zusammenhang die Kirche in Madagaskar wahrgenommen?
Burger: Nur 23 Prozent der Bevölkerung sind katholische Christen. Die Kirche allein wird all die Probleme nicht stemmen können. Aber sie setzt schon viele Hoffnungszeichen, gerade im Bereich Bildung. Zum Beispiel Projektpartner von Misereor; aber auch die Jesuiten und Salesianer machen hier hervorragende Arbeit. An vielen Stellen eröffnen sie Jugendlichen Bildungschancen, die sie sonst in keiner Weise hätten. Aber noch mal: Das kann Kirche nicht allein machen - es ist auch und vor allem der Staat in der Pflicht, hier im wahrsten Sinne des Wortes Staat zu machen.
KNA: Frauen haben nicht viel zu sagen in Madagaskar - aber viel zu leiden.
Burger: Das ist definitiv so. Aber: Wo sie Chancen bekommen, Chancen sehen, da ergreifen sie sie auch. Bei einem unserer Dorfbesuche haben wir erlebt, wie Frauen dort mit neuen Gelegenheiten und Kenntnissen auch ihre Familien mitziehen, die Ehemänner in Veränderungen einbinden: bei Bildung, im landwirtschaftlichen Anbau, bei der Marktfähigkeit von Produkten. Es ist toll, so etwas vor Ort zu sehen.
KNA: Sie haben Kirchenrecht studiert, haben ein besonderes Verhältnis zu rechtlichen Strukturen. Das letzte Thema der Reise war ein Projekt von Ordensfrauen, das Kleinbauern ermöglicht, gegen Anfechtungen aus der Hauptstadt Landtitel zu erwerben auf jenen Acker, den sie schon seit Jahrzehnten oder Generationen selbst bebauen.
Burger: Wir haben Bauern gehört, die berichteten, wie einflussreiche Kräfte über die Politik versuchen, auf ganze Dörfer zuzugreifen und sich deren Erträge und Lebensunterhalt unter den Nagel zu reißen.
Bauern, die versuchen, sich gegen diesen Diebstahl zu wehren, werden teils sogar noch ins Gefängnis gesteckt. Das zu erleben und anzuhören, treibt mir den Zorn ins Gesicht. Es kann nicht sein, dass sich Reiche noch widerrechtlich das aneignen, was die Armen erwirtschaften und zum eigenen Überleben brauchen.
Recht zu haben ist das eine, Recht zu bekommen das andere. Aber ich bin dankbar, dass diese Organisation unter Leitung von Ordensfrauen Bauern nun ermöglicht, sich gerichtlich dagegen zu wehren. Dieser Mut nötigt mir jeden Respekt ab. Ich würde mir wünschen, dass dieses Beispiel Schule macht: Hilfe zur Selbsthilfe; Hilfe, wo der eigene Einsatz sogar mit Risiken für Leib und Leben verbunden ist.
KNA: Sie haben erlebt, dass die Menschen hier, die selbst kaum etwas haben, Ihnen noch Geschenke mit auf den Weg gegeben haben. Was nehmen Sie sonst noch mit im Koffer aus Madagaskar?
Burger: Vor allem Dankbarkeit für die Großherzigkeit dieser Menschen; für ihre großen und kleinen Zeichen der Verbundenheit. Da wird klar:
Unsere Hilfe aus Deutschland kommt nicht von oben herab, sondern als Partnerschaft; als Geschwisterlichkeit in der einen Welt. Wir fragen gezielt: Was braucht ihr, was euch wirklich weiterbringt? So werden wir allmählich miteinander vertraut, eine solidarische Gemeinschaft. Nicht Nehmer und Geber, sondern Brüder und Schwestern.