DOMRADIO.DE: Manche haben die Präsidentschaftswahl in Brasilien im Vorfeld als "Abstimmung zwischen Pest und Cholera" bezeichnet. Wer hat in Ihren Augen das Rennen gemacht? Pest oder Cholera?
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks MISEREOR): Einer Wahl zwischen Pest und Cholera stimme ich nicht zu. In seiner Lebensgeschichte, in seiner Politik sowie in seiner Präsidentschaft, die er zweimal inne hatte, war Lula da Silva auf der Seite der Ausgeschlossenen und Vulnerablen. Er hat eine andere Biographie als Bolsonaro.
Beiden kann man nicht hundertprozentig zustimmen. Sie haben sehr unterschiedliche politische Projekte. Von daher war die Enttäuschung unserer Partnerorganisationen, mit denen wir in Brasilien unterwegs sind, groß, weil der Unterschied im Wahleergebnis zwischen Lula da Silva und Bolsonaro etwa bei fünf Prozent liegt. Die Erwartungen waren andere gewesen.
DOMRADIO.DE: Bolsonaro hat Lula da Silva im Wahlkampf schlecht gemacht. Die konservativen Wähler haben Lula da Silva mit dem Präsidenten Venezuelas, Nicolas Maduro, verglichen und in dem Zusammenhang vor dem Schreckgespenst Hyperinflation und dadurch noch mehr Instabilität gewarnt. Ist an dem Vergleich etwas dran?
Spiegel: Ich halte den Vergleich nicht für richtig. Da ist nichts dran. Brasilien ist neun mal größer als Venezuela. Man sollte diese beiden Politiker Maduro und Lula da Silva nicht gegeneinander ausspielen. Die Biographie beider ist anders. Ich halte den Vergleich für nicht zulässig.
DOMRADIO.DE: Sie haben viele Jahre in Brasilien gelebt und Lula da Silva auch mehrmals persönlich erlebt. Im Wahlkampf hat er den Schutz des Regenwaldes versprochen. Wird er dabei bleiben oder ist er "ein Lügner", wie Bolsonaro ihn bezeichnet hat?
Spiegel: Lula da Silva ist von seiner Geschichte her ein Gewerkschaftler. Er hat auch als Präsident immer die Gewerkschaftspolitik in den Vordergrund gestellt. Einen starken Bezug zu Indigenen hat er nicht. Aber an einem Beispiel will ich seine Haltung deutlich machen. Lula da Silva verspricht, dass er keine Ausbeutung auf indigenem Land zulassen wird, während Bolsonaro sagt, er werde die bisher geschützten Gebiete der Indigenen zum Abbau von Rohstoffen ausweiten.
Da liegt ein klarer Unterschied vor. Von daher scheint eine Regierung Lula da Silvas für die Indigenen vielversprechender zu sein. Zumal er auch versprochen hat, ein Ministerium für Indigene zu etablieren.
Das wäre enorm wichtig, weil Amazonien in den letzten Jahren die Mittel gekürzt wurden. Kontrollstrukturen wurden demontiert und Mitarbeiter von zuständigen Behörden entmachtet. Es liegt eine klar unterschiedliche Option im Bezug auf Amazonien vor, was vor dem Hintergrund besonders wichtig ist, dass dieses Gebiet weltweit eine große Rolle im Kontext des Klimawandels und der Klimarettung spielt.
DOMRADIO.DE: Jair Bolsonaro hat in der Stichwahl weiter die Chance auf die Präsidentschaft. Mit zweitem Namen heißt er Messias. Er ist zweimal geschieden, Waffenfan und international für seine frauenfeindlichen Tiraden bekannt. Gleichzeitig hatte er die evangelikalen Christen auf seiner Seite. Woher kommt diese Nähe?
Spiegel: Die evangelikalen Christen sind keine homogene Einheit. Es gibt auch auf Seiten der evangelikalen Christen kleine Kirchen, die die Option an der Seite der Armen gewählt haben. Aber mehrheitlich hat er die evangelikalen Christen in seiner Nähe.
Das hängt damit zusammen, dass Bolsonaro eine religiös fundamentalistische Politik macht. Er hat Gott, Vaterland und Familie immer wieder ins Zentrum gestellt. Wir von Misereor mit unseren Partnern und auch ich, der ich lange in Brasilien gelebt habe, sehen da sehr große Widersprüche.
Gott wird an die erste Stelle gesetzt. Aber gleichzeitig predigt er Hass, er lügt und er ist der Fake-News-Rekordhalter in Brasilien. Das heißt, da gibt es große Widersprüche. Aber die Mehrheit der evangelikalen Christen hat er mit einer fundamentalistischen, nationalistischen Politik auf seiner Seite.
DOMRADIO.DE: Verändert der Wahlausgang etwas am Engagement von Misereor in Brasilien oder wird die Arbeit mit lokalen Partnern so weiterlaufen?
Spiegel: Wir haben in Brasilien etwa 240 lokale Partner oder Projekte. Unsere Schwerpunkte werden sich nicht verändern. Die bestehen darin, die Zivilgesellschaft zu stärken, um Druck für eine Politik zu machen, die Brasilien wieder aus der Hungerzone hinaus bringt und die gegenüber Indigenen und Amazonien eine Beziehung des Sorgetragens pflegt sowie die Demokratiedefizite wieder abbaut.
Es wird natürlich viel davon abhängen, welche Zugänge wir zur Lokal- und Bundespolitik haben, um unsere Forderungen mit unseren Partnern gemeinsam anzubringen.
DOMRADIO.DE: Wie sehen Sie den nächsten Tagen bis zur Stichwahl in vier Wochen entgegen?
Spiegel: Am Montagabend habe ich mit verschiedenen Freundinnen und Freunden aus Brasilien gesprochen und gefragt, wie sie die Herausforderungen der kommenden vier Wochen sehen. Die Sorge ist groß, dass die Erhitzung zunehmen würde und dass weniger Sachargumente, sondern Emotionalität ausgetauscht wird und dass nicht allzu viel Respekt im Umgang politischer Positionen und Optionen herrschen wird. Alle, die ich gesprochen habe, sagten, dass eine Zunahme von Gewalt nicht auszuschließen sei.
Das Interview führte Katharina Geiger.