Misereor ruft zu politischer Zurückhaltung im Niger auf

"Der Westen hat hier keinen guten Ruf"

In 86 Ländern ist das Hilfswerk Misereor aktiv. In kaum einem davon ist die politische Lage so angespannt wie im Niger. Zu seiner Jahrespressekonferenz ruft das Werk für Entwicklungszusammenarbeit den Westen zur Zurückhaltung auf.

Straßenszene im Niger / © Katrin Gänsler (KNA)
Straßenszene im Niger / © Katrin Gänsler ( KNA )

DOMRADIO.DE: Erst am Mittwoch gab es Meldungen von gewaltsamen Auseinandersetzungen bewaffneter Gruppen mit mehreren Dutzenden Toten. Die Lage ist unübersichtlich, Sie stehen aber mit Ihren Projektpartnern vor Ort in Kontakt. Was wissen Sie im Moment über die Lage im Niger?

Raoul Bagopha, Länderreferent für Mali beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor / © Olaf Rohl/MISEREOR (KNA)
Raoul Bagopha, Länderreferent für Mali beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor / © Olaf Rohl/MISEREOR ( KNA )

Raoul Bagopha (Regionalrerefent Westafrika bei Misereor): Die Lage ist sehr instabil und es wird immer einseitiger, weil die Machthaber in Niamey im Moment noch nicht so richtig fest im Sattel sitzen. Und die Regierungen Westafrikas, die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten ECOWAS, sind auch noch dabei, eine richtige Lösung zu finden.

Wir sehen auch, dass wir noch keinen klaren Weg haben, weil es keinen Konsens zwischen der ECOWAS und der Afrikanischen Union gibt. Es ist eine sehr komplizierte Lage, das bedeutet für bewaffnete Gruppen ein leichtes Spiel.

DOMRADIO.DE: In einer sehr instabilen Weltregion war der Niger in den letzten Jahren ein Land, das als Stabilitätsfaktor galt und auch ein wichtiger Ansprechpartner für den Westen wurde. Warum gerade dieses Land?

Bagopha: Niger ist für die westliche Welt sehr wichtig, weil der gerade gestürzte Präsident Bazoum einen klaren Kurs hatte. Er wollte aus sicherheitspolitischen Gründen auf die Zusammenarbeit mit dem Westen setzen.

Mohamed Bazoum (l.), Präsident der Republik Niger, zu Besuch bei Papst Franziskus am 3. Dezember 2022 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Mohamed Bazoum (l.), Präsident der Republik Niger, zu Besuch bei Papst Franziskus am 3. Dezember 2022 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Er hat deutlich gemacht, dass wir hier eine strategische Partnerschaft haben sollten, damit die Sicherheit des Landes auch gewährleistet wird. Aber er hat auch manchmal Entscheidungen getroffen, ohne mit seiner Bevölkerung zu rechnen, die da besonders skeptisch war. Ich denke, dass der Westen auch das Gefühl hatte, dass man in dem gerade gestürzten Präsidenten einen vertrauenswürdigen Partner hatte. Die Sicherheitslage in Niger war wichtig für den Westen.

Sie wissen, dass die USA dort viele Soldaten haben. Das spielt eine wichtige Rolle für die Sicherheit im Norden, Libyen zum Beispiel. Klar ist, dass Niger ein migrationspolitisch gesehen wichtiges Transitland für den Nachbarkontinent Europa ist.

Wirtschaftspolitisch spielt das Land ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Zum Beispiel in puncto Uran-Lieferung an Frankreich und generell an die EU. Der Partner könnte dem Westen abhanden kommen, das sorgt für Nervosität.

DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit den Projekten aus, die Misereor in der Region hat? Können die in der aktuellen Lage noch weitergeführt werden?

Bagopha: Wir haben noch stabile Kontakte. Die Partner sind nigrische Organisationen, die vor Ort von Nigrerinnen und Nigrern geleitet werden. Das sind zwei Partner, die sich Südwesten an der Grenze zu Burkina Faso und Mali befinden.

Aber wir haben auch welche im Südosten, das heißt in der Region Diffa, an der Grenze zu Nigeria. Und über sie erfahren wir, dass sie natürlich im Moment nicht so arbeiten können, wie sie sich das wünschen würden. Sie versuchen, ihr Bestes zu tun in dieser sehr instabilen Lage.

DOMRADIO.DE: Was brauchen die Menschen vor Ort?

Bagopha: Was die Menschen jetzt dringend brauchen, ist eine Stärkung von Initiativen rund um Vermittlungen mit religiösen Würdenträgern und anderen. Wir müssen wegkommen von der Drohung mit Militäreinsätzen und Sanktionen.

Raoul Bagopha

"Wir müssen wegkommen von der Drohung mit Militäreinsätzen und Sanktionen."

Es muss deutlich gemacht werden, dass hier eine friedliche, diplomatische Lösung gefunden werden soll. Das geht nur im Dialog und auch unter Einbeziehung aller zivilgesellschaftlichen Akteure und religiösen Kräfte. Das ist das eine.

Das andere ist, in die zivilen Projekte zu investieren. Was wir da erleben, sind auch nur Reparaturarbeiten. Also perspektivisch brauchen wir mehr Investitionen in zivile Projekte, die die Ernährungssicherung, Bildung und die Gesundheitsversorgung in diesem Land ermöglichen.

DOMRADIO.DE: Misereor Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel hat bei der Vorstellung des Jahresberichtes in Berlin den Westen zu politischer Zurückhaltung aufgerufen. Warum ist das jetzt gerade wichtig?

Bagopha: Zurückhaltung und Diskretion sind absolut wichtig, weil der Westen in diesem Teil der Welt keinen guten Ruf hat. Jedes falsche Wort könnte Öl ins Feuer gießen. Einmischungen, die vielleicht wohlmeinend sind, könnten schlecht aufgefasst werden.

Raoul Bagopha

"Jedes falsche Wort könnte Öl ins Feuer gießen."

In der Vergangenheit wurde jede Wortmeldung auch immer eher als Befehl und Belehrung angesehen. Das wird von den Menschen vor Ort nicht gut aufgenommen.

Ich finde das gerechtfertigt, weil sie auch einen Anspruch darauf haben, ihre internen Konflikte selbst zu lösen. Wenn sie Unterstützung brauchen, werden sie sich melden. Das haben sie in der Vergangenheit auch gemacht. Die Menschen dort wissen, dass sie auf internationale Solidarität setzen können und sollten, wenn sie an ihre Grenzen stoßen.

Als Frankreich 2013 in Mali interveniert hat, war das auf Bitten der malischen Regierung, und das wurde von den Menschen auch gut aufgenommen. Sie hatten das Gefühl, die Hilfe nach eigener Agenda bestimmt zu haben.

Das Selbstwertgefühl, das man in Niger sieht, ist wahrzunehmen und zu respektieren. Wichtig ist auch zu signalisieren, dass man diese Souveränität, die man dort zunehmend sieht, auch ernst nimmt. Und man sollte die Leute sie auch ausüben lassen.

Man sollte aushalten, dass sie versuchen, ihre Probleme selbst zu lösen und dass sie selbstbestimmt nach Hilfe fragen können, wenn sie sie brauchen. Nur dann kann man mit ihnen darüber reden, ob man in der Lage ist, die Hilfe zu leisten, die sie brauchen und wenn ja, wie man sie leisten möchte.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Misereor: Politische Krise in Niger beeinträchtigt Helfer

Die Arbeit von Entwicklungshelfern wird nach dem Putsch in Niger aus Sicht des Hilfswerks Misereor immer schwieriger. Der Zugang zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen in abgelegenen Regionen werde komplizierter und riskanter, sagte Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel laut Redemanuskript am Donnerstag in Berlin. Ausrüstung, Strom und Treibstoffe würden knapper. Immer wieder gebe es Angriffe auf Mitarbeiter und Versuche bewaffneter Gruppen, an Fahrzeuge und Material der Hilfswerke zu gelangen.

Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor / © Gordon Welters (KNA)
Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor / © Gordon Welters ( KNA )
Quelle:
DR