domradio.de: Was ist der Nordirak für eine Region?
Martin Bröckelmann-Simon (Geschäftsführer vom katholischen Hilfswerk Misereor): Ich bin in den vergangenen Jahren häufiger dort gewesen, weil der Nordirak durch den Vormarsch des IS unter enormen Flüchtlingsdruck geraten ist. Die Versorgung der vielen geflüchteten Menschen aus Syrien und aus anderen Teilen des Irak stand im Mittelpunkt. Wenn man es mal klimatisch beschreiben will: Es ist eine sehr trockene und heiße Region im Sommer, im Winter dagegen kalt und regenreich. Es ist eine alte Kulturregion, die Flüsse Euphrat und Tigris sind dort zu finden - es ist eine multiethnische und multireligiöse Region reich an Geschichte.
domradio.de: Sprechen wir über die Kurden: Was ist das für eine Volksgruppe? Warum sind die so umstritten?
Bröckelmann-Simon: Die Geschichte der Kurden ist sehr wechselvoll und seit über 1000 Jahren durch Kämpfe geprägt. Insbesondere die letzten 200 Jahre waren extrem konfliktreich. Sie sind in der Erinnerung immer präsent, denn die Kurden wurden immer wieder in ihren Autonomiebestrebungen bekämpft. Heute leben die 25 bis 30 Millionen Menschen, die man als Kurden bezeichnen könnte, über vier Staaten verteilt - ein Ergebnis der Kolonialzeit, des Zerfalls des Osmanischen Reichs. Damals haben die entscheidenden Mächte - Frankreich, Großbritannien und Russland, wenn man so will - dafür gesorgt, dass die Kurden erstens kein eigenes Siedlungsgebiet zugesprochen bekommen haben – obwohl es ihnen versprochen wurde. Und zweitens wurden sie in ihren Autonomiebestrebungen von Anbeginn an dieser Periode immer wieder bekämpft.
domradio.de: Nun berufen sich die Kurden auf die UN-Charta, die allen "Völkern" einen souveränen Staat eingesteht. Was spricht denn dagegen?
Bröckelmann-Simon: Zum ersten die Tatsache, dass es über vier Staaten hinweg kurdische Bevölkerung gibt. Die Autonomiebestrebungen der Kurden würde die Souveränität von vier Staaten in Frage stellen. Das wirft ganz viele Fragen auf. Auf der anderen Seite muss man natürlich anerkennen, dass gerade im Nordirak - also dem kurdischen Teil im Irak - sich in den vergangenen 20 Jahren faktisch schon eine Autonomieregion mit eigener Flagge, Verwaltung, Armee und Strukturen gebildet hat. Deswegen kann man faktisch davon sprechen, dass zumindest der irakische Teil Kurdistans wie ein unabhängiger Staat erscheint. Er ist es zwar nicht, aber faktisch ist es so.
domradio.de: Jetzt haben sich die Kurden mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Dieses Referendum ist allerdings nicht bindend, soll aber die Verhandlungsposition gegenüber der Zentralregierung im Irak stärken. Wie sind denn die Erfolgsaussichten, dass es bald ein eigenständiges Kurdistan geben würde?
Bröckelmann-Simon: Von allen Beobachtern wird es nicht ausgeschlossen, dass es dazu kommen könnte, weil die Frage nach der Zukunft des Irak insgesamt auf der Tagesordnung steht. Die Vertreibung des IS hat die Probleme des Irak nicht gelöst. Im Grunde hat es ja tektonische Verschiebungen gegeben. Und die Frage ist, wie dieser Vielvölkerstaat und multireligiöse Staat mit den Minderheiten und den verschiedenen Volksgruppen umgehen wird. Dazu gehören auch die Christen im Nordirak, die ja dort hingeflüchtet sind, beziehungsweise dort schon lange leben. Die Mehrheit von ihnen fühlt sich unter der kurdischen Regierung sicherer. Aber auch die Christen sind da durchaus gespalten.
Letztendlich wird es eine schwierige Frage sein, wie man Autonomieregelungen trifft, dass auch das Wohl der Minderheiten im Blick bleibt - Stichwort Christen, Jesiden und Turkmenen. Es wird schwierig, die Balance zu finden. Wir als internationale Gemeinschaft - gerade auch Deutschland - müssen dringend dafür sorgen, dass wenn es eine Autonomieregelung für Kurdistan gibt, dann auch die Rechte der Minderheiten, gerade der Christen, Jesiden und Turkmenen geschützt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ihre Angelegenheiten auch selber regeln können. Es gibt im Moment eine große Skepsis unter allen Beteiligten.
Das Gespräch führte Verena Tröster.