DOMRADIO.DE: Keine Annäherung gab es in Salzburg beim geplanten europäischen Asylsystem oder der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas. Diskussionbedarf gibt es auch weiterhin über den Ausbau und die Zuständigkeiten der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Herr Spiegel, Sie hatten im Vorfeld des Gipfels vor einer Aufwertung von Frontex gewarnt. Sind Sie in diesem Punkt zufrieden?
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor): Wir sehen die Herausforderungen des Frontex-Mandats komplexer. Es ging in dem informellen Gipfel in Salzburg um den Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex als zentrale Lösung der Migrationsfrage. Das haben wir mit Sorge gesehen. Bei Frontex geht es einmal darum, das Mandat zu stärken - sowohl personell als auch von der Aufgabenstellung her. Wir von Misereor sind der Meinung, dass der Schutz der Außengrenzen ein legitimes Anliegen der Europäischen Union und auch nicht zu beanstanden ist. Problematisch finden wir, wenn der Eindruck entstehen könnte, dass es Europa nicht um den Schutz der Flüchtlinge und der Menschen geht - wie zum Beispiel im Ceuta, an den Grenzen von Gibraltar. Dort wird ohne Asylprüfung eine Kooperation mit der libyschen Küstenwache auf den Weg gebracht. Da haben wir große Fragezeichen.
Ein weiterer Punkt, der mit Blick auf Frontex besprochen wurde, ist, ob es Anlandezentren als konkretes Konzept geben soll. Bisher haben sich die afrikanischen Staaten dagegen entschieden, solche Zentren auf ihrem eigenen Boden zu haben. Das könnte sich eventuell mit Ägypten jetzt ändern, weil diese Zentren auch direkt mit wirtschaftlichen Anreizen in Verbindung gebracht werden. Das wiederum führt nach unserer Meinung dazu, dass die Frage der Migration mit anderen Politikbereichen vermischt wird. Deswegen sehen wir die Frage von Frontex und die Frage der Ursachenbekämpfung von Flucht und Migration komplexer und haben auch konkrete Lösungsvorschläge.
DOMRADIO.DE: Sie waren gerade auf einer Reise in Äthiopien. Da haben Sie positive Beispiele erlebt. Besser als die Grenzen zuzumachen wäre natürlich, Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen. Was haben Sie denn erlebt?
Spiegel: Äthiopien ist ein Land mit über hundert Millionen Einwohnern. Allein im Osten Afrikas, wozu Äthiopien zählt, gibt es 12 Millionen Binnenvertriebene. In Äthiopien selbst sind es 2,8 Millionen. Diese Zahlen zeigen, wie virulent Binnenmigration innerhalb der Länder Ostafrikas besteht.
Wir haben in Äthiopien gemeinsam mit Erzbischof Burger, dem Misereor-Bischof, Projekte von Misereor besucht, die schon sehr lange bestehen. Wir haben ein Projekt besucht, wo es um Förderung und das Selbstbewusstsein von jungen Mädchen und Frauen geht. Sie werden im Norden Äthiopiens in verschiedenen Bereichen ausgebildet, die besonders auf dem lokalen Markt gefragt sind - etwa in den Bereichen Handwerk, Frisör oder im gastwirtschaftlichen Bereich. Dort haben wir gesehen, dass ein Großteil dieser Menschen auf dem lokalen Markt Arbeit finden und damit auch ein würdiges Leben auf den Weg bringen kann.
Wir haben ebenfalls im Norden Äthiopiens ein College besucht, das versucht, qualifizierte handwerkliche Ausbildung auf den Weg zu bringen und dann die Arbeitslosigkeit zu reduzieren - also ebenfalls für den lokalen Markt auszubilden. Was mich persönlich am meisten gefreut hat, war ein Staudammprojekt, mit dem ein angepasster Staudamm hilft, landwirtschaftliche Produkte zu erzielen - Obst und Gemüse, die wiederum auf den lokalen Märkten verkauft werden können und damit Zukunftsfähigkeit für die Menschen vor Ort darstellen.
Für Erzbischof Burger und mich war es eine ganz große Freude, zu sehen, dass die Bekämpfung struktureller Ungleichheit und die Möglichkeit, Zugänge zum lokalen und regionalen Arbeitsmarkt zu schaffen, große Chancen für die Zukunft bieten.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Statement zum Gipfel sprechen Sie von einer "moralischen Bankrotterklärung Europas", wenn sich die Europäer angesichts der ankommenden Flüchtlinge an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Solidarität sehen. Können Sie das für uns erklären?
Spiegel: Wir haben in Europa etwas mehr als 500 Millionen Bürger und Bürgerinnen. Wir wissen, dass es sehr viele soziale Probleme gibt. Es gibt eine Ungleichheit zwischen den europäischen Ländern und nochmal innerhalb der einzelnen Länder. Dennoch, wenn man sieht, wie viele innerhalb der Länder Ostafrikas vertrieben werden und dagegen sagen 500 Millionen EU-Bürger und -Bürgerinnen, sie seien an der Grenze der Leistungsfähigkeit und Solidarität, wenn Flüchtlinge hier ankommen, dann nenne ich es "Bankrotterklärung Europas". Es ist ein Unding, dass aufgrund von Ungleichheit, von Krisen, von Klimaveränderungen nicht eine größere Solidarität von der Wertegemeinschaft Europas auf den Weg gebracht werden kann.
Das Interview führte Katharina Geiger.