Die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs" erklärte, die Befunde der jüngsten Studie im Auftrag der Bischöfe zeigten, dass vor allem die innerkirchlichen Machtstrukturen den Schutz der Kinder und die Rechte der Betroffenen untergraben.
Dringend geboten sei eine "Analyse täterfreundlicher Strategien" innerhalb der Kirche. Bislang müssten die Täter auch nach Bekanntwerden der Taten wenig befürchten, weil lediglich bei einem Drittel aller Beschuldigten ein kirchenrechtliches Verfahren eröffnet worden sei. Davon sei ein Viertel mit keinerlei Sanktionen beendet worden. Oft seien Beschuldigte in eine andere Gemeinde versetzt worden, ohne diese zu informieren.
Kritische Überprüfungen
Die Kirche müsse das Beichtgeheimnis, aber auch die Gemeinde- und Seelsorgearbeit kritisch überprüfen. Sie müsse sich konsequent mit dem Zölibat und ihrer Haltung zur Sexualität auseinandersetzen. Weiter verlangen sie eine Überwindung des Klerikalismus. Der Umgang mit Betroffenen zeige bis heute, dass ihre Rechte auf Aufklärung und Entschädigung an der Hierarchie, der Intransparenz sowie an den Machtstrukturen der Kirche abpralle.
Zudem müssten die Kirchenarchive geöffnet werden, um eine unabhängige Forschung und Aufarbeitung zu gewährleisten. Auch die Orden müssten eine unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung leisten. Zudem spricht sich die Kommission für eine "großzügige Lösung für Zahlungen" an die Betroffenen aus. Wichtig für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft sei, dass die Kirche ihre Schuld anerkenne und VErantwortung übernehme. Die beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung angesiedelte Kommission nahm Anfang 2016 ihre auf drei Jahre befristete Arbeit auf. Sie soll Ausmaß und Folgen von Kindesmissbrauch in Deutschland untersuchen.
Bezug auf Papst Franziskus
Auch die frühere deutsche Vatikan-Botschafterin Annette Schavan forderte "tiefgreifende Veränderungen" in der katholischen Kirche. Angesichts des "schwerwiegenden Vertrauensbruchs" durch sexuellen Missbrauch müssten sich die Bedingungen in der Kirche verändern, die die Taten erst möglich gemacht hätten, sagte sie im rbb-Inforadio.
Papst Franziskus habe immer wieder Klerikalismus und Machtmissbrauch in der Kirche angeprangert. "Genau da muss jetzt angesetzt werden", so die frühere Wissenschaftsministerin. Der notwendige "Wendepunkt", von dem Kardinal Reinhard Marx am Montag in Fulda gesprochen hatte, sei nur "mit vereinten Kräften", gemeinsam mit den Gläubigen möglich.
Betroffene im Vordergrund
Die Studie sei Ausgangspunkt für weitere vertiefte Untersuchungen, so Schavan. Das hätten einzelne Bischöfe schon angekündigt und für ihr Bistum in Auftrag gegeben. Für eine echte "Wende" brauche es jetzt einen Perspektivwechsel. Bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt sei oft zu stark die Frage in den Vordergrund gestellt worden, wie die Kiche zu schützen sei, kritisierte Schavan. Stattdessen müsse es um die Situation der Betroffenen und deren Schutz gehen. "Das ist die Wende, und das führt dann auch dazu, dass alles an Unterlagen, was vorhanden ist, herangezogen werden muss."
Auch die Gläubigen müssten ihren Willen deutlich machen, "dass wirklich alles aufgeklärt wird" und "dass die Bedingungen für den Machtmissbrauch wirklich beiseite geschafft werden", so die studierte Theologin. Sie verwies darauf, dass "jeder, der nicht zum Amt gehört in der katholische Kirche, Laie genannt wird. Das hat eine bestimmte Konnotation. Das ist nicht mehr zeitgemäß, das wird der Kirche auch nicht gerecht", so Schavan. "Ich glaube, das ist das, was der Papst mit Klerikalismus und Machtmissbrauch meint."
"Nicht auf Augenhöhe"
Die Opferinitiative "Eckiger Tisch" forderte die katholischen Bischöfe auf, stärker als bisher auf die Betroffenen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche zuzugehen. "Zu lange haben sie es vermieden, sich wirklich auf Augenhöhe mit uns zu begeben und uns tatsächlich ernst zu nehmen", sagte der Mitbegründer der Initiative, Matthias Katsch. Bis heute habe es aus seiner Sicht auch zu wenige direkte Gespräche zwischen Bischöfen, anderen hochrangigen Kirchenvertretern und Missbrauchsopfern gegeben.
Manchmal sei sogar eine "angebliche Rücksichtnahme auf die Opfer" vorgeschoben worden, um "nur ja nicht aktiv werden zu müssen", ergänzte Katsch, der als Schüler am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin missbraucht worden war. So sei beispielsweise immer wieder argumentiert worden, man wolle lieber nicht aktiv auf Betroffene zugehen, um sie nicht erneut zu traumatisieren. "Das ist Unsinn", so der Opfervertreter weiter: "Wenn ein Betroffener nicht mehr darüber reden will, kann er das selbst sagen, doch er muss nicht von der Frage verschont werden."
"Betroffenheit reicht nicht"
Katsch rief zugleich Politik und Gesellschaft auf, stärker auf die Kirchen einzuwirken, damit diese "offener und transparenter mit dem Thema Missbrauch umgehen, besser mit den Justizbehörden zusammenarbeiten und auch höhere Anerkennungsleistungen zahlen".
Mit Blick auf die Ergebnisse der neuen Missbrauchsstudie müsse die Kirche bereit sein, tatsächlich Konsequenzen zu ziehen "und nicht nur erneut Betroffenheit bekunden und um Entschuldigung bitten", betonte Katsch. Auch Bischöfe müssten persönlich Verantwortung übernehmen, sollten sie in ihrem derzeitigen oder früheren Verantwortungsbereich falsch gehandelt haben beim Thema Missbrauch.
"Das Entscheidende fehlt"
Ähnlich äußerte sich der Kriminologen Christian Pfeiffer in der "Passauer Neuen Presse". Wenn die Kirche das Vertrauen der Gläubigen wieder zurückgewinnen wolle, müsse sie offenlegen, wo sie Fehler begangen habe, sagte Pfeiffer und forderte auch personelle Konsequenzen. Im Ausland sei den von Missbrauch Betroffenen überdies wesentlich mehr Geld als Anerkennung für das erlittene Leid ausgezahlt worden.
"Die Studie ist vorbildlich und exzellent aufgearbeitet", sagte Pfeiffer. "Aber das Entscheidende fehlt: Wir wissen nicht, wer die Verantwortlichen sind." Es sei zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Beispielhaft verwies der Kriminologe unter anderem auf die Untersuchungen durch staatliche Stellen in der US-amerikanischen Kirche. Dort sei "volle Transparenz" hergestellt worden. Dies müsse auch in Deutschland geschehen. "Diese ganze verbale Erschütterungsrhetorik, die wir heute zu hören bekommen, überzeugt mich nicht, solange die Kirche nicht konsequent ist und die Dinge nicht wirklich offenlegt."
Jesuit Mertes würdigt Studie und fordert weitere Konsequenzen
Für den Jesuiten Klaus Mertes dokumentiert die am Dienstag offiziell vorgestellte "Studie über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" erschütternde Fälle. Die Untersuchung zeige, "dass und wie systematisch Täter vorgehen, so dass auf einen Täter dann weit mehr als nur ein Opfer vorkommt, in manchen Fällen sogar über hundert", sagte Mertes der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Freiburg.
Deutlich werde auch fehlende Reue bei Tätern sowie eine "unterschiedliche Aufklärungsbereitschaft" der deutschen Diözesen. Zugleich würdigte er die Studie: "Ich finde, man muss Bischof Ackermann und diejenigen, die hinter diesem Auftrag stehen, auch einmal loben."
"Was müssen wir bei uns verändern?"
Mertes, der seit 2010 eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in katholischen Schulen übernahm, betonte, am Anfang und Mittelpunkt aller Bemühungen um weitere Aufarbeitung müsse das Gespräch mit den Betroffenen stehen. Die Schlüsselfrage laute: "Was müssen wir bei uns verändern, um Opfern besser zuhören zu können, wenn sie sprechen?"
Der Jesuit sprach sich für weitere Untersuchungen zu "Prozessen des Vertuschens" aus. Bis heute gebe es Personen, die den Institutionen- und Täterschutz vor den Opferschutz stellten. "Das Versagen der Institution ist für Opfer mindestens genauso schmerzlich wie die sexualisierte Gewalttat selbst", so Mertes. Er forderte, gegen Machtmissbrauch im "Männerbund Klerus" vorzugehen: "Ein erster, ganz unkomplizierter Schritt wäre, Frauen zum Diakonat zuzulassen."
"Spitze des Eisbergs"
Erste Zahlen der am Dienst vorgestellten Studie waren bereits im Vorfeld bekanntgeworden: In den kirchlichen Akten der Jahre 1946 bis 2014 fand das Forscherteam demnach Hinweise auf 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe und auf rund 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute.
Der Mitbegründer der katholischen Laienorganisation "Wir sind Kirche", Christian Weisner, forderte staatliche Behörden auf, mehr gegen sexualisierte Gewalt hinter Kirchenmauern zu unternehmen. "Der Staat hat die Aufgabe, Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft zu schützen", sagte Weisner dem Radiosender Bayern 2. Die Missbrauchsstudie zeige nur die "Spitze des Eisberges", da nicht alle 27 Bistümer ihre Archive geöffnet hätten.
Barley zur Studie: Kirche muss Verantwortung übernehmen
Bundesjustizministerin Kataraina Barley (SPD) hat mit Blick auf die Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche Konsequenzen gefordert. Die Bistümer und Orden müssten endlich Verantwortung für jahrzehntelanges Vertuschen und Verleugnen übernehmen, erklärte Barley am Dienstag in Berlin. "Wie massiv aus dem Inneren der Kirche heraus Vertrauen, Abhängigkeiten und Macht missbraucht wurden, ist unerträglich. Kindern ist unermessliches Leid zugefügt worden, das sie ein Leben lang verfolgt."
Nur wenn sich die katholische Kirche ernsthaft der Debatte über Machtstrukturen und Sexualmoral stelle, könne sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, so die SPD-Politikerin weiter. Schweigekartelle dürfe es nicht mehr geben. Stattdessen brauche es eine Kultur des Hinsehens und Eingreifens. Prävention sei zudem der beste Opferschutz.
Die Justizministerin verlangte, dass die Kirche jede Tat anzeigt. Der Rechtsstaat könne nur funktionieren, wenn ihm Taten gemeldet würden. Die Kirche müsse durch unabhängige Untersuchungen sicherstellen, dass das Leid der Opfer dokumentiert und die Verbrechen der Täter aufgeklärt würden.
Zugleich würdigte sie den Mut der Betroffenen, "trotz aller verfestigten Tabus über diese furchtbaren Erlebnisse zu reden". Notwendig sei eine Enttabuisierung, damit mehr Täter zur Rechenschaft gezogen und neue Taten verhindert würden.
Giffey: Kirche muss Missbrauch ehrlich und umfassend aufarbeiten
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat von der katholischen Kirche eine "ehrliche und umfassende Aufarbeitung" beim Missbrauch an Minderjährigen gefordert. "Ich erwarte schonungslose Aufklärung", sagte Giffey am Dienstag in Berlin vor Veröffentlichung der Missbrauchsstudie.
Giffey betonte weiter, es gehe nicht nur um den Blick in die Vergangenheit. "Der Gedanke, dass noch heute Menschen in der katholischen Kirche Verantwortung tragen, die Kinder sexuell missbraucht haben, ist unerträglich", so die Ministerin. "Menschen, die so etwas tun, haben in keinem Amt der Kirche etwas zu suchen." Sie erwarte konsequentes Handeln der Kirche.