Carlos Etcharay erinnert sich genau an den Tag, an dem er beschloss, Schlagzeuger zu werden. "Ich kam von der Schule und folgte anderen Jungs in die Pfarrei und sah, dass sie alle Musik machten", erinnert sich der 13-Jährige. Seitdem kommt Carlos jeden Samstag um 8 Uhr früh ins Pfarreizentrum Jesus de Nazareth in der venezolanischen Metropole Barqusimeto zum Schlagzeugunterricht und zu den Proben der Band "Latidos". Die Musik, so sagt er, habe ihm geholfen zu verarbeiten, was ihm und seiner Familie zugestoßen war: Vier Jahre zuvor wurde sein Vater auf offener Straße mit sechs Messerstichen ermordet.
Carlos Etcharay wohnt im Stadteil La Caruciena. Das Viertel ist berüchtigt für seine hohe Kriminalitätsrate. Abends um 20 Uhr sind dort die Straßen bereits wie leergefegt, aus Angst vor Überfällen. Heute kommt dazu der Hunger. Angesichts einer galoppierenden Inflation reicht das Einkommen der meisten nicht mal für das Essen. Die Stimmung auf den Straßen ist gedrückt - nicht so im Kinder-Vergnügungspark "Chicolandia" bei der Wohltätigkeitsveranstaltung einer Sonderschule.
Musik aus Leidenschaft
Dort lässt Carlos Etcheray seine Holzstäbe auf der Tommel tanzen, als ob er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht hätte. Sein Gesicht ist zu einem breiten Lachen verzogen, während er eine Gaita trommelt, den fröhlichen und schnellen Rhythmus, der in der Weihnachtszeit in allen Straßen Venezuelas zu hören ist.
Die mitreißende Sängerin der Band ist eine Frau Ende 40, mit rundem Gesicht und grauen Locken. Maigualida Riera ist die Missionsärztliche Schwester, die das Musikprojekt "Latidos", was soviel heißt wie "pulsierende Schläge", gegründet hat. Sie begannen mit wenigen Instrumenten und der freiwilligen Unterstützung einiger Musiklehrer. Das Projekt fand schnell Zuspruch. "Heute sind wir um die 80 Personen, Schüler und Lehrer mitgezählt", sagt Maigualida Riera.
Viel Musik in Venezuela
Musik ist sei jeher ein wichtiger Teil der venezolanischen Kultur. Viele Venezolaner spielen Cuatro, die viersaitige Ukulele, oder machen in einer der Bands mit, die sich in der Vorweihnachtszeit in den Dörfern, Vierteln, Schulen und Universitäten bilden, um dann von Haus zu Haus zu ziehen.
Dazu kommt, dass der venezolanische Staat seit Jahrzehnten die musikalische Bildung seiner sozial benachteiligten Jugendlichen fördert. Diese Maßnahmen haben viele Kinder und Jugendliche an die Musik herangeführt und wurden unter dem Namen "El Sistema" bekannt. Heute ist auch "El Sistema" im Niedergang begriffen, einige der einst dort tätigen Lehrer geben nun Unterricht im Projekt "Latidos".
Es fehlt beim Essen
Zum Weihnachtsfest in Venezuela darf die Hallaca nicht fehlen. Das sind in Bananenblätter eingewickelte, mit Hackfleisch gefüllte Maistaschen, die jede Familie nach eigenem Rezept in großen Mengen herstellt, um sie an Freunde und Verwandte zu verschenken. " Ich befürchte, dass viele Familien diese Weihnachten ohne Hallacas feiern werden", sagt Schwester Maigualida. "Wer noch Geld hat, wird sich entscheiden müssen zwischen einem Weihnachtsgeschenk oder Essen, beides ist nicht mehr drin."
Ob es angesichts dieser Not nicht ein Luxus sei, Musik zu machen und dafür Spendengelder zu verwenden? Maigualida Riera weist das weit von sich. Sie selbst ist in einer musikalischen Familie aufgewachsen und kann sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. "Einige unserer vielen Konzertbesucher sagen uns: ich bin mit Hunger im Bauch gekommen, aber jetzt gehe ich froh weg." In Zeiten großer Bedrängnis, biete die Musik einen wichtigen Ort der geistigen Erneuerung. "Sie signalisiert : wir machen weiter. In der Musik wird ein fröhlicher Gott sichtbar", betont die Ordensschwester. "Deswegen haben wir 'Latidos' gegründet."
Das aktuell jüngste Mitglied der Band Jesus Ignacio spielt das Rhythmusinstrument Guiro und die Trommel. Trotz seiner gerade mal sechs Jahre weiß er schon, wofür der Name der Gruppe steht: "'Latidos' - das sind die Schläge des Herzens und der Freundschaft."