DOMRADIO.DE: Wo auf der Welt findet man moderne Sklaverei? Was verbirgt sich dahinter?
Dietmar Roller (Entwicklungsexperte mit über 30 Jahren Projekterfahrung in Asien, Afrika und Lateinamerika und Vorstandsvorsitzender der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission Deutschland e. V. / IJM) Wir gehen sogar davon aus, so wie auch die International Labour Organization, dass sich über 50 Millionen Menschen in Sklaverei befinden. Das ist etwa so viel wie die Einwohnerzahl ganz Spaniens.
Es gibt 28 Millionen Arbeitssklaven, wie wir sie zum Teil auch in Katar finden, aber auch weltweit. Da geht es darum, dass Menschen in Schuldknechtschaft sind, weil sie irgendwo Schulden abarbeiten. Das System besteht darin, dass immer mehr Schulden für Unterkunft und Verpflegung dazu kommen und die Menschen damit sehr lange nicht aus der Spirale kommen.
Es gibt auch Fälle, wie wir in Katar teilweise sehen, dass Menschen die Pässe weggenommen werden, dass sie nicht bezahlt werden, dass sie bei Arbeitsunfällen nicht geschützt sind. Menschen werden sozusagen zur Ware gemacht.
Und dann gibt es auch noch viele andere Formen wie sexuelle Ausbeutung bei uns in Deutschland. Zwangsprostitution ist ein großes Thema, was unter moderner Sklaverei läuft. Wir haben sexuelle Ausbeutung von Kindern, zum Beispiel im Internet, das auch unter Sklaverei läuft.
DOMRADIO.DE: Das heißt also einfach nur zu sagen, das ist ein Problem von Entwicklungsländern, wäre zu kurz gegriffen?
Roller: Wir sind in vielfacher Hinsicht ein Teil des Problems. Es kommt auch dazu, dass wir in Deutschland Produkte im Wert von 15 Milliarden im Jahr nutzen, die stark mit Sklaverei kontaminiert sind. Es gibt eine Studie einer deutschen Universität die besagt, dass jeder Deutsche im Schnitt 60 Sklaven hält, einfach durch unseren Konsum.
Wir können uns da gar nicht so richtig entziehen, weil in unseren Handys Konfliktmineralien sind, weil zum Teil die Vorprodukte für unsere Kleidung damit kontaminiert sind, weil wir Autobatterien haben, in denen Kobalt ist, wo ganz ausbeuterische Kinderarbeit drin steckt.
Auch bei Gold, Eheringen und Schmuck weiß man nie, ob da moderne Sklaverei enthalten ist. Das heißt, wir sind ein globaler Teil davon. Deshalb geht es uns alle an und deshalb müssen wir das Schweigen auch brechen. Das tun wir mit unserem Buch.
DOMRADIO.DE: Hat sich denn die Zahl derer, die heute in Sklaverei leben, in den letzten Jahren verändert?
Roller: Sie hat eher zugenommen. Man muss allerdings sagen, wenn die Zahl zunimmt, könnte es auch sein, dass man genauer zählt und hinguckt. In der gesamten 400-jährigen transatlantischen Sklaverei geht man von etwa 13 Millionen Menschen in Sklaverei aus. Wir reden heute von 50 Millionen. Das heißt, es gab noch nie so viele versklavte Menschen wie heute.
Jetzt muss man einfach sehen: Es gibt kein Land mehr in der Welt, das Sklaverei heute rechtlich legitimiert. Aber es gibt ganz viele rechtsfreie Räume. Arme Menschen haben keinen Zugang zum Rechtssystem. In diesen rechtsfreien Räumen setzt sich die moderne Sklaverei wie ein Chamäleon fest.
Das heißt, man sieht es gar nicht auf den ersten Blick. Das sind Geschäftsmodelle, die diese Menschen, die im rechtsfreien Raum leben, weil sie arm sind, komplett ausbeuten. Und wir sprechen von der Kapitalisierung des Körpers. Das heißt, man nimmt den Menschen als Arbeitsmaterial wie eine Maschine und benutzt ihn genauso wie eine Maschine.
Das ist schrecklich. Und das hat mit uns allen zu tun. Es ist ein globales Verbrechen, das global geächtet ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir voran gehen und das verändern.
DOMRADIO.DE: Jetzt nehmen wir mal im Vorfeld der WM Katar in den Blick. Wo finden Sie da Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse, die unter den Begriff Sklaverei fallen?
Roller: Wir machen in der Kampagne "stopp28.org" darauf aufmerksam. Darin fordern wir dazu auf, dass wir in der 28. Minute bei jedem Spiel einfach ausschalten sollten und posten, weil eben 28 Millionen Menschen in dieser Art von Arbeitssklaverei betroffen sind.
In Katar hat es ganz viel damit zu tun, dass sehr viele Migranten dort arbeiten. Über 90 Prozent der Menschen, die dort arbeiten, sind "migrant workers". Das sind Arbeiter, die aus armen Staaten kommen.
Zuerst muss man sagen, ist das durchaus positiv. Denn diese Menschen, wenn sie gut bezahlt werden, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen, wenn sie Zugang zum Recht haben, können ihre Familien damit in ihren armen Heimatländern unterstützen und können sozusagen auch nachhaltig damit Geld nach Hause bringen.
Leider ist es eben in Katar wie in anderen Ländern so, dass dort sehr wenig bezahlt wird, zum Teil auch gar nicht. Zudem arbeiten die Menschen auch bei Hitze von 40 oder 42 Grad.
Wir hören zum Beispiel aus Nepal und oder auch aus Bangladesch immer wieder Berichte, dass Menschen nach ihrer Rückkehr an Nierenversagen sterben, weil sie in dieser Situation zu wenig getrunken haben. Das heißt, die Rahmenbedingungen sind so, dass Menschen zu Tode kommen. Da gibt es auch verschiedene Zahlen: 6.500 ist eine Zahl. Das ist das eine.
Das andere ist aber auch, dass sich im Laufe des Prozesses jetzt gerade vor der WM die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Teil geändert haben. Zum Beispiel wurde auf dem Papier das Kafla-System abgeschafft.
Das ist ein System, wo der Arbeitgeber die Vormundschaft für den hat, der für ihn arbeitet. Das heißt, er ist der Vormund, er regelt alles für ihn, er kann ihm den Pass wegnehmen. Wenn der Arbeitnehmer nicht spurt, kann er ihn wegschicken.
Das heißt, die volle Macht liegt bei jemandem, der sozusagen für mich verantwortlich ist. Und da fängt es dann an, gerade bei Hausmädchen und so weiter, dass sexuelle Ausbeutung häufig dazu kommt. Genau das passiert, was wir heute unter moderner Sklaverei verstehen, dass die Menschen kapitalisiert werden.
DOMRADIO.DE: Sie und Ihre Koautoren sagen, es gibt auch Hoffnung. Inwiefern?
Roller: Das durchzieht das ganze Buch "Ware Mensch" von Anfang bis Ende. Der Grund dafür ist, dass es rechtlich gesehen kein Land mehr gibt, das Sklaverei zulässt. Es versteckt sich in Geschäftsmodellen in rechtsfreien Räumen.
Wir von International Justice Mission verschaffen Menschen zum Beispiel den Zugang zum Recht. Wir sind beispielsweise mit verdeckten Ermittlern unterwegs, in den Millieus, zusammen mit der Polizei, nicht wir alleine. Wenn die Menschen befreit werden, dann wäre das gut. Aber da wäre sofort jemand anders wieder drin.
Wir bringen aber die Täterinnen und Täter zur Anklage. Das ist dann ein Leuchtturm-Effekt. Wenn das mehrere Male passiert, dass es in solchen rechtsfreien Räumen zur Anklage kommt, dann ist der Raum nicht mehr rechtsfrei.
Dann ist das Risiko gestiegen und wir können nachweisen, dass in ganzen Regionen damit moderne Sklaverei kollabiert. Daher ist es nicht so, dass man tatenlos zusehen muss. Das gilt am Ende auch für Lieferketten. Wir sprechen immer von der letzten Meile, denn da passiert es.
Auch da, wo man rechtlich reingeht und das zur Anklage bringt, fängt das System an sich zu verändern und zu kollabieren.
Die andere Sache ist, dass wir selber zum Beispiel auch mit unserem Einkauf sensibel werden können. Wir können faire Produkte kaufen und nachfragen. Wir haben eine Verbrauchermacht und wir haben die politische Macht in einer Demokratie. Wir können auch mit Politiker*innen in unserem Umfeld darüber sprechen. Wir merken, auch da verändert sich das Bewusstsein. Dass wir überhaupt das Thema moderne Sklaverei jetzt so ansprechen können, wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen. Man hat noch gar keinen Blick dafür gehabt.
Das Interview führte Bernd Hamer.