Moraltheologe fordert Beibehaltung von Paragraf 218

"Nicht alles tun, was möglich ist"

Die Regelungen zu Abtreibung, Legalisierung von Eizellspende und Leihmutterschaft drohen zu kippen. Moraltheologe Jochen Sauermeister warnt vor fließenden Grenzen hin zur Fortpflanzungsmedizin als Dienstleitung aus Lifestyle-Gründen.

Symbolbild Familie / © LookerStudio (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Anfang letzten Jahres hat die Bundesregierung eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingesetzt. Sie hat den Auftrag, die bisherige Regelung zum Schwangerschaftsabbruch und zur Legalisierung von Eizellspende und Leihmutterschaft zu prüfen. Mitte April ist die Veröffentlichung der Kommissionsergebnisse vorgesehen. Warum ist eine solche Prüfung überhaupt erforderlich?

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Prof. Jochen Sautermeister (Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn): Schon seit Längerem gibt es Bestrebungen, die deutsche Gesetzgebung zur Fortpflanzungsmedizin zu liberalisieren. In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampelregierung daher eine Prüfung vereinbart. Die Ampelkoalition geht davon aus, dass die bisherige Gesetzgebung zur Reproduktionsmedizin in Deutschland zu restriktiv sei. Derzeit regelt das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahre 1990 weitestgehend die Fortpflanzungsmedizin in Deutschland. Verfahren wie die Eizellspende oder die Leihmutterschaft, also das Austragen des Embryos bzw. Fötus bis zur Geburt durch eine andere Frau, sind demnach verboten. Die Prüfung einer Revision der Regelungen wird mit Verweis auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse sowie mit Entwicklungen des sozialen Wertbewusstseins und Familienverständnisses begründet.

Außerdem möchten manche die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs verankern und aus der verpflichtenden Schwangerschaftskonfliktberatung lediglich ein Beratungsangebot machen. Sie begründen dies damit, dass die derzeitige Regelung nicht mit dem Recht der Frau auf reproduktive Selbstbestimmung vereinbar sei. 

Frankreich hat ja jüngst das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert. Diesen Schritt kann man eindeutig als Paradigmenwechsel bezeichnen. Allerdings muss in ethischer Hinsicht klar zwischen Fortpflanzung und Abtreibung unterschieden werden: denn Leben zu zeugen ist etwas völlig anderes als ungeborenes Leben zu beenden, also zu töten. Meines Erachtens kann man daher beides nicht unter ein- und derselben Überschrift diskutieren.

Jochen Sautermeister

"Das bedeutet jedoch nicht, dass man alles tun sollte, was auch möglich ist."


DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie als Moraltheologe also die Bestrebungen bezüglich der Fortpflanzungsmedizin ein?

Sautermeister: Gemeinsame Kinder können als ein großes Geschenk und als Ausdruck tiefer Verbundenheit und verschenkender Liebe verstanden werden. In christlicher Hinsicht wird dieser kreative Sinn als Teilnahme an Gottes schöpferischem Wirken gedeutet (vgl. GS 50). Ein unerfüllter Kinderwunsch kann daher für Paare eine sehr große Belastung darstellen. Da ist es durchaus verständlich, nach medizinischer Hilfe zu suchen. 

Die Fortpflanzungsmedizin hat in den letzten 45 Jahren biotechnologische Möglichkeiten eröffnet, die es vielen Paaren mittlerweile erlaubt, eigene Kinder mithilfe assistierender reproduktiver Techniken wie der In-vitro-Fertilisation (IvF), also der künstlichen Befruchtung der Eizelle im Reagenzglas, oder der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI), also dem Einspritzen einer Samenzelle in die Eizelle, zu zeugen. 

Das bedeutet jedoch nicht, dass man alles tun sollte, was auch möglich ist. Schließlich führen die neuen Möglichkeiten auch zu einem neuen Ausmaß über die Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit von menschlichem Leben, was eine besonders hohe Verantwortung darstellt. Man denke nur an die vielen überzähligen Embryonen, die durch die Reproduktionsmedizin entstehen.

Jochen Sautermeister

"Kinder haben eine eigene Würde, die es verbietet, dass sie auf bestimmte Merkmale hin biotechnologisch designt oder ausgewählt werden."


DOMRADIO.DE: Können Sie erläutern, was Sie unter einem verantwortungsvollen Umgang verstehen?

Sautermeister: Zum einen ist hier an das potenziell ungeborene Leben zu denken. Das Wohl des zukünftigen Kindes hat eine so grundlegende Bedeutung, dass es bei allen Erwägungen maßgeblich sein soll. 

Für Kinder, die mithilfe der Reproduktionsmedizin gezeugt werden, gelten dieselben Rechte wie für alle anderen Kinder: Sie haben eine eigene Würde, sie haben ein Recht auf die Kenntnis ihrer Herkunft, also auch zu wissen, wer ihre biologischen Eltern sind, und sie haben ein Recht auf bestmögliche Bedingungen des Aufwachens und der Identitätsentwicklung; das umfasst sowohl die körperliche als auch die psychosoziale Dimension. Ihre Würde verbietet es auch, dass sie auf bestimmte Merkmale hin biotechnologisch designt oder ausgewählt werden.

Jochen Sautermeister, Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister, Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Zum anderen ist an die potenziellen Eltern zu denken. Die Medizin darf hier nicht mit unrealistischen Hoffnungen spielen oder falsche Erwartungen wecken. Es gibt immer noch eine Vielzahl an Kinderwunschbehandlungen, die nicht erfolgreich verlaufen und für das Paar dann sehr belastend und schmerzhaft sind. Denn es bedeutet, sich von dem Wunsch auf gemeinsame Kinder verabschieden zu müssen. Darüber hinaus sind aber auch die gesundheitlichen Belastungen und Risiken der Frau zu erwähnen, etwa wenn sie sich einer Hormonbehandlung unterziehen muss.

Und schließlich ist darauf zu achten, dass nicht Dritte im Rahmen von fortpflanzungsmedizinischen Verfahren ausgebeutet, zu unsittlichen Zugeständnissen gedrängt, unverhältnismäßigen gesundheitliche Risiken ausgesetzt oder existenziell unzumutbare Belastungen in Kauf nehmen müssen, etwa bei einer Leihmutterschaft.

Jochen Sautermeister

"Die Grenzen hin zur Fortpflanzungsmedizin als Dienstleitung aus psychosozialen oder Lifestyle-Gründen sind fließend oder aufgrund von gleichgeschlechtlichen Paar- oder Singlekonstellationen offensichtlich."


DOMRADIO.DE: Mitunter kann man den Eindruck gewinnen, dass katholische Positionen in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten zu Fragen der Bioethik kaum noch Beachtung finden. Dennoch: Was könnte Ihrer Meinung nach ein Beitrag der Moraltheologie für die aktuelle Diskussion zur Fortpflanzungsmedizin sein?

Sautermeister: Im politischen Diskurs erscheint es ratsam, sich auf zentrale prinzipielle Erwägungen zu konzentrieren, die einerseits an die aktuelle Debatte anschlussfähig sind und andererseits den Sinn der katholischen Überzeugung zum Ausdruck bringen. Da steht an erster Stelle das Kindeswohl, das immer zu gewährleisten ist. 

Es gibt kein Recht auf ein Kind; es gibt kein Anspruchsrecht, für dessen Einlösung die Gesellschaft oder der Staat zu sorgen hätte. Kinder sind bleibend ein Geschenk; sie haben eine Würde und sind Zweck in sich selbst. Daher kommen Kinder auch eigene Recht zu, wie ich bereits ausgeführt habe. 

Da der Begriff der reproduktiven Selbstbestimmung missverständlich ist und er nicht das Prinzip des Kindeswohls hinreichend berücksichtigt, bringt meines Erachtens das Prinzip der verantworteten Elternschaft besser auf den Punkt, worum es geht. Denn es betont zum einen, dass Eltern eine nicht delegierbare Verantwortung für die Entscheidung hinsichtlich der Wahl assistierender reproduktionsmedizinischer Technologien haben und als Eltern dabei auch für das Wohl des zu zeugenden Kindes Verantwortung tragen. Und zum anderen bedeutet Verantwortung, dass Eltern im Rahmen der Möglichkeiten das grundlegende Recht auf Selbstbestimmung zukommt, was eine entsprechende Informiertheit und Aufklärung über gesundheitliche Risiken und psychosoziale Herausforderungen für sich selbst und Dritte beinhaltet.

Grundsätzlich ist zu beachten, dass die Fortpflanzungsmedizin die Zeugung aus ihrem lebensweltlichen Kontext entbettet. Eine solche technologische Assistenz darf nicht prioritär gegenüber der lebensweltlichen Fortpflanzung und den lebensweltlichen Vollzügen werden. Dabei sind die Grenzen hin zur Fortpflanzungsmedizin als Dienstleitung aus psychosozialen oder Lifestyle-Gründen fließend oder aufgrund von gleichgeschlechtlichen Paar- oder Singlekonstellationen offensichtlich.

DOMRADIO.DE: Welche konkreten Forderungen würden Sie aus diesen Überlegungen ableiten?

Sautermeister: Ich möchte mich auf drei Aspekte beschränken. Meines Erachtens sollte erstens zumindest eine verpflichtende psychosoziale Beratung für Paare eingeführt werden, die heterologe Verfahren wie die Samen- oder Eizellspende in Anspruch nehmen möchten, um ihre reproduktionsmedizinische Absicht in einem geschützten Raum reflektieren zu können und um die Konsequenzen für das Kind und besondere Aspekte der Erziehung und Aufklärung über dessen Herkunft zu besprechen. Denn durch die gespaltene Elternschaft werden erhöhte Anforderungen an die Eltern und die Identitätsentwicklung des Kindes gestellt. 

Zweitens sollte das Verfahren der Leihmutterschaft in Deutschland verboten bleiben. Abgesehen von Idealkonstruktionen, kann es nur durch unsittliche Vertragsbedingungen und existenzielle Zumutungen für die Leihmutter, wie das Paradox einer hohen pränatalen emotionalen Bindung an den Embryo bzw. Fötus und dann ihre postnatale Lösung der Bindung, oder gar durch eine Ausbeutung der Leihmutter umgesetzt werden kann. Gleichwohl sollte im Sinne des Kindeswohls für eine Rechtssicherheit der Kinder gesorgt werden, wenn diese im Ausland von einer Leihmutter ausgetragen wurden.

Drittens ist zu betonen, dass jährlich bis zu 100.000 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland erfolgen, die weder medizinisch noch kriminologisch indiziert ist. Hier wäre für eine Stärkung der Säuglingsadoption und für eine Beibehaltung von Paragraf 218 StGB als gesellschaftlicher Kompromiss zu plädieren, da dem Ungeborenen ein eigenes Lebensrecht zukommt.

Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.

Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin

Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, der Bundesminister für Gesundheit, Prof. Dr. Karl Lauterbach, und der Bundesminister der Justiz, Dr. Marco Buschmann, haben auf Grundlage des Koalitionsvertrages die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin berufen. Die Kommission hat sich am 31. März 2023 konstituiert.

Familienministerin Lisa Paus und Justizminister Marco Buschmann verteidigen das neue Gesetz / © Michael Kappeler (dpa)
Familienministerin Lisa Paus und Justizminister Marco Buschmann verteidigen das neue Gesetz / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
DR