DOMRADIO.DE: Im November ist Ihr Buch "Jazz und Spiritualität" erschienen. Was hat Sie eigentlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Uwe Steinmetz (Jazzmusiker und Buchautor): Zum einen mein eigener künstlerischer Werdegang, dass ich inspiriert wurde von Musikerinnen und Musikern, die ihre Religion oder ihre eigene Spiritualität auch in der Musik ausgedrückt haben.
Das beginnt natürlich in der Klassik, angefangen vielleicht bei Johann Sebastian Bach, aber dann eben auch bei dem großen Komponisten Olivier Messiaen, die quasi ihre ganze Theologie in die Musik gesetzt haben.
In meinem eigenen Genre, dem Jazz, ist das ebenfalls sehr verbreitet, auch in verschiedenen Kulturen. Das hat mich in den letzten Jahrzehnten sehr fasziniert und auch meine eigene Arbeit geprägt. Deswegen war es mir jetzt auch ein Herzensanliegen, das alles einmal zu sortieren und in Buchform zu bringen.
DOMRADIO.DE: Was hat Jazz mit Spiritualität zu tun?
Steinmetz: Spiritualität ist natürlich erst einmal ein ganz vager Begriff, der das Menschsein betont: alles, was uns ausmacht, was uns verändert, was uns prägt, was uns über uns hinausführt. Das hat für sich genommen schon einmal ganz viel mit Musik zu tun.
Denn das ist ein Grund, aus dem wir musizieren: Wir möchten ausdrücken, was uns prägt, was uns verändert und was uns auch über uns hinausführt.
Im Jazz ist das besonders eng verschränkt, weil es dort in der Improvisation eben zusätzlich noch immer auf diesen spezifischen Moment ankommt, in dem ich all das in die Waagschale werfe, was mich prägt, was ich glaube, und was ich ausdrücken möchte für die Zuhörerinnen und Zuhörer in dem Raum, in dem ich musiziere. Diese enge Kopplung, finde ich, macht das Besondere am Jazz aus.
DOMRADIO.DE: Worin unterscheidet sich denn der Ausdruck einer ganz persönlichen Spiritualität im Jazz von einem ebensolchen in der klassischen Musik?
Steinmetz: Es ist tatsächlich der Zeitfaktor, weil ich nur in einem konkreten Konzert auf etwas, wie etwa Bilder von Ewigkeit, zurückgreifen und musikalisch verwenden kann, aber natürlich nicht an einem anderen Ort genau so wiederholen kann.
Ich kann das Stück ja nicht als Partitur abliefern und sagen: Das ist jetzt meine Klangwelt von Ewigkeiten oder von anderen religiösen Erfahrungen, die ich ausdrücke.
Dieses Spezifikum im Jazz, dass man immer nur für einen bestimmten Moment Musik macht, das macht es gleichzeitig ähnlich zu unserem Umgang mit Religion.
Ob wir in den Gottesdienst gehen, in der Messe sitzen oder zu Hause meditieren, alles das passiert ja eben auch nur in einem spezifischen Moment.
Es ist dieser eine Moment, in dem sich entscheidet, ob wir uns verändern lassen oder nicht, der ganz entscheidend ist. Das kann kein organisiertes Konzert leisten.
DOMRADIO.DE: Sie haben in Ihrem Buch ganz viele Musikbeispiele gegeben, um dieses Zusammenspiel von Jazz und Spiritualität zu verdeutlichen. Welches Musikbeispiel gefällt Ihnen besonders gut?
Steinmetz: Ein Stück, das in unserer heutigen Zeit auch fast wieder prophetisch erscheint, ist die Aufnahme von John Coltrane, wie er Alabama spielt.
Es hatte einen schrecklichen Terroranschlag gegeben. Vier schwarze Mädchen waren nach diesem Attentat gestorben, und er spielt dann wenig später im Fernsehstudio ein Stück. Dabei improvisiert er die Melodie fast wie ein Psalmengebet, modal, also über einen liegenden Ton, ganz ruhig.
Jahrzehnte später hat man dann herausgefunden, dass die Melodie in Rhythmus und Ausdruck der Grabrede von Dr. Martin Luther King Jr. ähnelte.
In dieser Grabrede drückte Martin Luther King Jr. eine ganz tiefe Verbundenheit mit den Familien der Opfer aus und erinnerte alle Anwesenden einerseits natürlich an den christlichen Glauben an die Auferstehung.
Gleichzeitig war er in einer tiefen Empathie mit den Opfern verbunden. Es gab in seiner Rede keinen Hass und keine Ideologisierung. Dabei war es ja die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, also auch eine Zeit der Eskalation.
Und das erinnert mich an die Position, die der Jazz so schön vertreten kann – er ist empathisch, fühlt mit, schwingt mit und stellt sich auf die Seite derer, die Gebrochenheit empfinden und Heilung suchen.
Das ist ein universeller Ausdruck, den auch viele Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker in dieser Zeit wieder sehr stark verwenden, und den ich auch in dem Buch zitiere: Sie suchen als Musikerinnen und Musiker also Heilung und finden Ausdruck.
Und John Coltrane war sicherlich der erste Pionier, der das musikalisch so stark und bannend geschafft hat.
DOMRADIO.DE: Wo kann Spiritualität vielleicht auch etwas vom Jazz lernen?
Steinmetz: Ich denke, Spiritualität kann etwas vom Undogmatischen des Jazz lernen. Ich habe ja darauf hingewiesen, dass Jazz eine sehr persönliche Form ist.
Wir leben in einer Zeit einer vielleicht fast schon überzeichneten Individualisierung. Dem entspricht eben auch ein spirituelles Empfinden.
Ich mag zwar meine eigene spirituelle Welt oder Religion für mich begreifen und erschließen, aber lebendig wird sie nur, wenn ich sie auch mit anderen teilen kann. Das betrifft natürlich auch den Jazz ganz essenziell.
Ein Konzert kann ganz ohne Zuhörerinnen und Zuhörer gar nicht stattfinden, mögen es auch nur wenige sein. Diese Beziehung zu den Zuhörenden und den Spielenden, die im Jazz stattfindet, ist das, was Spiritualität lebendig macht.
Diese Beziehung ist natürlich dialogisch und eben nicht dogmatisch. Und das ist wiederum etwas, was wir in unserer heutigen Zeit sicherlich sehr gut gebrauchen können: ein offenes Aufeinanderzugehen und auch Stehenlassen von unterschiedlichen Positionen.
Ich finde das immer wieder beim gemeinsamen Musikhören zu Hause mit Freunden und Freundinnen, was ich ja auch in dem Buch anrege, so spannend, dass man sich zusammensetzt und Musik hört, aber gleichzeitig weiß: jeder hört dann am Ende doch etwas anderes – und das ist ja großartig in diesen Zeiten.
Das Interview führte Tim Helssen.