Thaer Ahmad sprach im Weißen Haus sechs Minuten zu Präsident Biden. Er las aus dem Brief eines sechsjährigen Mädchens aus Gaza vor und warnte eindringlich vor einer Invasion Israels in Rafah. "Das wird dort ein Blutbad und ein Massaker", sagte der Arzt, der kürzlich als Freiwilliger Menschen in Gaza behandelt hatte. Dann stand er auf und entschuldigte sich. "Aus Respekt für meine Gemeinde und die vielen Menschen, die trauern, werde ich das Treffen jetzt verlassen."
Der Präsident zeigte Verständnis für den demonstrativen Auszug Ahmads aus dem Treffen mit Führern der muslimischen Gemeinde in den USA am Dienstag. Doch egal dürfte es Biden nicht gewesen sein. Denn er braucht im November jede Stimme der mehr als 2,5 Millionen Wähler muslimischen Glaubens, die 2020 mit großer Mehrheit für den Amtsinhaber gestimmt hatten.
Wie tief deren Unbehagen über Bidens Gaza-Politik ist, zeigte sich bereits bei den Vorwahlen in Michigan, als die "Listen To Michigan"-Kampagne (dt. Hört auf Michigan) dem Präsidenten mit mehr als 100.000 Enthaltungen einen Denkzettel verpasste. Im November kann es sich Biden in kritischen Wechselwählerstaaten wie dem im Mittleren Westen mit seiner starken muslimischen Gemeinde nicht leisten, mehr als 13 Prozent der Stimmen zu verlieren.
Notlösung: Abendessen für muslimische Mitarbeiter
"Mir war wichtig, meine Frustration auszudrücken", sagte Ahmad der "Washington Post", die prominent über die Abfuhr Bidens bei den Führern der Muslime berichtete. Der Präsident hatte sie wie seine Vorgänger in den vergangenen 20 Jahren zum traditionellen Iftar-Mahl zum Ende des Fastenmonats Ramadan eingeladen.
Als einer nach dem anderen absagte, schaltete das Weiße Haus um. Das festliche Mahl wurde zu einem Abendessen für muslimische Mitarbeiter des Präsidenten deklariert. Derweil erneuerte Biden seine Einladung der Gemeindeführer zu einem bloßen Gedankenaustausch. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, wollte die Stimmung bei dem Treffen, an dem auch Vizepräsidentin Kamala Harris und der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan teilgenommen hatten, nicht weiter charakterisieren. "Das war eine private Begegnung."
Dann gab sie aber doch zu erkennen, dass Spannungen in der Luft lagen. Der Präsident wisse um den tiefen Schmerz der arabischen und muslimischen Gemeinde, und er bleibe einem "sofortigen Waffenstillstand als Teil der Geiselbefreiung und signifikant erhöhter humanitärer Hilfe verpflichtet". Jedes verlorene Leben in diesem Konflikt sei eines zu viel.
Doch das war nicht das, was die Teilnehmer hören wollten. Edward Ahmed Mitchell von der islamischen Lobbyorganisation Council on American-Islamic Relations (CAIR) kritisiert die nicht an Bedingungen geknüpfte Lieferung von US-Waffen an Israel.
Drohender Verlust an Unterstützung für Biden
"Das Weiße Haus macht es Israels Regierung möglich, Palästinenser auszuhungern und abzuschlachten", so Mitchell.
An dem zurückgestutzten Treffen nahm auch "Emgage" nicht teil, eine muslimische Interessenvereinigung, die Biden 2020 aktiv unterstützt hatte. "Wir hatten vorgeschlagen, das Treffen bis auf Weiteres zu verschieben", so der Vorsitzende der Gruppe, Wa'el Alzayat. Statt einer handverlesenen Liste mit Eingeladenen sollte das Weiße Haus "mit von der Gemeinde ausgewählten Repräsentanten" in der Sache sprechen.
Salima Suswell vom Black Muslim Leadership Council schloss sich dem Boykott nicht an; weil sie die Gelegenheit nutzen wollte, Biden vor den Konsequenzen seiner Politik zu warnen. Die schwarze Gemeinde fühle sich bei den Wahlen in einer moralischen Zwickmühle, schärfte sie dem Präsidenten ein. Denn Afroamerikaner könnten sich gut "mit der Unterdrückung und Entmenschlichung" der Palästinenser identifizieren. Denn: "Unsere Vorfahren haben 400 Jahre damit leben müssen."
Nach nicht einmal einer Stunde war das denkwürdige Treffen im Weißen Haus vorüber. Zurück blieb das Unbehagen über den drohenden Verlust an Unterstützung für Biden bei den Wahlen im November. Eine Stimmenthaltung oder die Wahl eines unabhängigen oder gar des Gegenkandidaten Donald Trump könnten den Amtsinhaber die Wiederwahl kosten.
Für Thaer Ahmad ging es bei seinem Protest vor allem darum, das Bewusstsein zu schärfen, "wie es sich anfühlt, wenn einem jemand den Rücken kehrt".