Rai verwies in einem am Sonntag vom Patriarchat auf Facebook veröffentlichten Gottesdienst auf die Einigung über Reformen, die eine Notfallregierung, unabhängige Spezialisten mit politischer Erfahrung sowie rotierende Ministerportfolios vorsieht. Keine Religionsgruppe dürfe ein Monopol auf ein bestimmtes Ministerium beanspruchen.
Mit seiner Kritik richtete sich Rai vor allem gegen die beiden schiitischen Gruppen Amal und Hisbollah. Hintergrund ist ein Streit um die Besetzung des Finanzministeriums. Parlamentssprecher Nabih Berry hatte zuletzt mit Unterstützung der Hisbollah dazu aufgerufen, es aus der vom designierten Ministerpräsidenten Mustafa Adib vorgeschlagenen Umstrukturierung von vier Schlüsselministerien auszunehmen.
Den designierten Ministerpräsidenten forderte Rai auf, "die Verfassung einzuhalten und eine Regierung zu bilden, auf die das Volk und die Welt warten". Es gebe keinen Grund, die Regierungsbildung zu verschieben. "Unter schicksalhaften Umständen Verantwortung zu übernehmen, ist die mutige, patriotische Position", so Rai.
Warnungen vor Entmachtung der Hisbollah
Unterdessen warnte der Vize-Präsident des Schiiten-Rates, Abdul Amir Qabalan, laut Bericht der Tageszeitung "Daily Star" (Sonntag) vor Versuchen der Entmachtung der Hisbollah sowie einer Gefährdung des religiösen Gleichgewichts im Libanon. Man werde derartige Vorhaben auf Druck "einer amerikanischen Peitsche und einer französischen Karotte nicht akzeptieren"; so Qabalan unter Anspielung auf die politischen Interventionen der USA und der einstigen Schutzmacht Frankreich. Im Libanon gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften; zu den größten gehören die maronitischen Christen sowie sunnitische und schiitische Muslime.
Ende August hatte Libanons Präsident Michel Aoun Adib mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Die Vorgängerregierung von Ministerpräsident Hassan Diab war am 10. August als Konsequenz der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August zurückgetreten, bei der mindestens 190 Menschen starben. Seit vergangenen Oktober halten Massenproteste gegen die politische Führungsriege sowie gegen Missstände und Korruption im Land an, die am 29. Oktober 2019 bereits zum Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri führten.