"Mystic Journey" in der Ehrenfelder Grabeskirche

"Die Sehnsucht nach Mystik keimt gerade wieder auf"

Drei Jahre lang hat ein Kreativteam um den Pastoraltheologen Daniel Sprint an einer spirituellen Performance mit Schauspiel, Musik und Tanz gearbeitet. Jetzt fand die Premiere zu diesem inspirierenden Projekt statt.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Die interaktive Performancce Mystic Journey / © Herand Müller-Scholtes
Die interaktive Performancce Mystic Journey / © Herand Müller-Scholtes

"Ich bin sehr bewegt", strahlt Daniela Gold. "Die Atmosphäre war toll. Ich habe gerade viel erlebt. Es passiert etwas mit einem. Da werden Erinnerungen und Assoziationen geweckt. Die eigenen Gedanken stehen nicht mehr still."

Die 53-Jährige, die gerade an der interaktiven Performance "Rejoint – Mystic journey" teilgenommen hat, wirkt aufgekratzt, aber auch beseelt. "Jetzt bin ich hellwach. Noch rätsele ich, was das Ganze bedeutet. Aber in jedem Fall war die Umsetzung speziell in diesem Gebäude total faszinierend."

Eindrücke von Besuchern

"Ich bin positiv verwirrt", gesteht Esther, eine junge Frau, die mit ihrer Freundin gekommen ist und nun genügend Gesprächsstoff mit ihr hat. "Ich würde mich als spirituell, aber nicht religiös bezeichnen, doch die letzten zwei Stunden hatten es in sich." Besonders gut habe ihr der Meditationsaspekt gefallen. "Auch weil ich gerne Yoga mache."

Sie interpretiere das, was sie soeben gesehen und gehört habe, als ein Gleichnis zwischen der Erde und dem Menschen, bei dem die Vulnerabilität des Einzelnen und die Zerstörung der Welt durch Menschenhand ganz klar zum Ausdruck gekommen seien. Einerseits empfinde sie Sprachlosigkeit, sagt die 32-Jährige. Andererseits aber könnte man eigentlich mit Interpretationsansätzen ganze Seiten füllen, sprudelt es aus ihr heraus.

Besucher von Mystic Journey

"Wie müssen sich wohl Nicht-Kirchgänger in unseren Gottesdiensten fühlen, deren Inhalte ja nach außen auch nicht erklärt werden und die aus vielen Zeichenhandlungen und dann wohl unverständlichen Bildern bestehen"

"Vorinformationen" als Verständnishilfe hat dagegen ein Besucher vermisst, der im Anschluss an diese Premiere in einer Gruppe auf dem Kirchhof steht und engagiert über einzelne Zitate, die ihm in Erinnerung geblieben sind, diskutiert. Er will verstehen, was diese christlich-mystische Reise, zu der neben Schauspiel, Musik und Texten auch Düfte wie Weihrauch gehören, letztlich aussagen will.

"Der Tanz dieses gegensätzlichen Paares, das stellenweise heftig miteinander gekämpft hat, war wahnsinnig beeindruckend. Auch der Chor hat mir gut gefallen. Aber ein paar erklärende Sätze als Anleitung oder Übersetzungsangebot wären schon hilfreich gewesen, zumal für mich weniger eine religiöse Botschaft im Vordergrund stand, als vielmehr die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Erde." Und er schiebt noch hinterher: "Wie müssen sich wohl Nicht-Kirchgänger in unseren Gottesdiensten fühlen, deren Inhalte ja nach außen auch nicht erklärt werden und die aus vielen Zeichenhandlungen und dann wohl unverständlichen Bildern bestehen."

Alexander muss seine Eindrücke erst noch "verdauen". Schließlich sei das kein normales Theater im herkömmlichen Sinn, wie der Student der Sozialwissenschaften erklärt. Aus reiner Neugierde und "völlig blind" sei er in diesen Abend gegangen. Das rächt sich jetzt, zumal die Verantwortlichen im Vorfeld auf Informationen mittels einer eigens eingerichteten Website verwiesen hatten, die in das Thema einführen sollten, damit jeder Besucher auch ein Stück weit vorbereitet ist.

Die prozessualen Elemente aber finde er spannend, sagt der 26-Jährige noch, auch weil das Publikum mit einbezogen wurde und nicht allein "Empfänger" blieb. "Mich interessiert eigentlich immer, etwas Neues zu sehen", begründet er sein Kommen. Nein, grundsätzlich religiöse Vorkenntnisse habe er als Ungetaufter so gut wie nicht, "auch wenn ich eine katholische Kita besucht habe". Aber das hindere ihn nicht, sich mit einem solchen Angebot eingehend auseinanderzusetzen und auf jeden Fall etwas mitzunehmen.

Besucherin von Mystic Journey

"Diese mystischen Texte wühlen mich sehr auf, weil sie mich im Kern treffen. Je länger sie in mir nachklingen, desto mehr komme ich bei mir selber an"

"Spannend" findet Karo Forbrig die in den Seelsorgebereich Ehrenfeld gehört, die keineswegs selbsterklärende Veranstaltung in der Grabeskirche. "Das fordert einem etwas ab“", argumentiert sie, "auch weil man sich auf verschiedene Ebenen einlassen muss. Man hört zu, versucht, die Texte zu verstehen und einzuordnen, hat aber gleichzeitig auch immer viel zu schauen: Es gibt eine tolle pantomimische Leistung, gleichzeitig digitale Lichtspiele mit prasselndem Regen oder rauschenden Meereswellen. Als Gesamtkunstwerk regt es an, sich Gedanken zu machen. Immer wieder war ich gefordert, mich neu in das Geschehen hineindenken."

Und dann sind da noch die Besucher, die es bevorzugen, für sich zu bleiben. "Ich nehme diese wunderbare innere Stille, die in mir entstanden ist, mit und möchte sie mir noch eine Weile bewahren", sagt eine Frau Mitte 60, die bewusst allein am Rand des Kirchenarreals stehen bleibt. "Diese mystischen Texte wühlen mich sehr auf, weil sie mich im Kern treffen. Je länger sie in mir nachklingen, desto mehr komme ich bei mir selber an. Eine wirklich eindringliche Performance des sich Aufmachens und Unterwegsseins – diese Mischung aus vielen Sinneswahrnehmungen, die einen Anstoß geben, eine Reise zum innersten Selbst zu machen."

Drei Jahre Vorbereitung

Der Plan von Theologe Daniel Sprint, mitverantwortlich für pastorale Entwicklung im Erzbistum, und einem ökumenisch besetzten Kreativteam, zu dem auch Pastoralreferentin Doris Dung-Lachmann aus dem Sendungsraum Bickendorf-Ehrenfeld-Ossendorf sowie der Regisseur Florian Caspar Richter und die Choreografin Brigitte Breternitz gehören, scheint aufgegangen. Mit "Mystic Journey" ist etwas noch nie Dagewesenes entstanden.

Pandemiebedingt haben alle Mitwirkenden gemeinsam – unterstützt vom Bonifatius-Werk als maßgeblichem Förderer – letztlich drei Jahre lang an dieser Idee gefeilt, die christliche Mystik neu in den Blick zu nehmen, dafür gewohnte Pfade zu verlassen und etwas Ungewohntes auszuprobieren, um sich in aufgeregten Zeiten, in denen religiöse Gewissheiten die Menschen nicht mehr an Kirche binden, wieder den eigenen spirituellen Wurzeln näher zu bringen und gezielt in Kommunikation mit ihnen zu treten.

Heftiges Ringen des Geschwisterpaares Mystik und Ratio

Die Ehrenfelder Grabeskirche St. Bartholomäus mit ihrem spärlichen Licht, dem abgetrennten Altarbereich durch einen Netzvorhang und den in die Zwischenwände eingelassenen Urnenstätten ist für dieses Gemeindeprojekt mit Experimentalcharakter der ideale Ort – wie sich herausstellt – um eine "Reise" mit ungewissem Ausgang zu wagen. Schließlich muss man offen, vielleicht sogar abenteuerlustig sein und sich auf viel Unterschiedliches einlassen: auf die mitunter nur gemurmelt vorgetragenen Texte großer Mystiker wie Meister Eckart oder Teresa von Avila.

Msytik und Ratio ringen miteinander / © Herand Müller-Scholtes
Msytik und Ratio ringen miteinander / © Herand Müller-Scholtes

Auf meditative Impulse, die mit Klängen und Gesang des Detmolder Hochschul-Kammerchors untermalt werden. Und auf ganz viel Bewegung. Denn alle Besucher nehmen einerseits interaktiv teil an der Geschichte der Geburt, Trennung und Wiedervereinigung der beiden Schwestern "Mystik" (Sway E'fey) und "Ratio" (Elke Waibel) – daher der Name "Rejoint". Dafür wechseln sie immer mal ihren Platz und die damit verbundene Perspektive. Andererseits aber werden sie auch unmittelbar Zeugen dieses heftigen und kompromisslosen Miteinanderringens, das von zwei Tänzerinnen (Waibel, E'fey) dargestellt wird, während ein Schauspielerpaar – Mann und Frau – jeweils die "Unschuld" (Neele Pettig) und den "Philosophen" (Stephan Wurfbaum) mimen.

 

Doris Dung-Lachmann, Pastoralreferentin

"In Zeiten, in denen das religiöse Regelwerk oft nicht mehr trägt, ist Mystik als innere Anbindung an Gott wichtiger denn je“

Der Wechsel aus Musik, spirituellen Sentenzen und Tanz also soll die Spiritualität der Gemeinden im Geist der christlichen Mystik neu inspirieren. Hier wird auf sehr eindrückliche Weise die Geschichte dieses Geschwisterpaares erzählt, das sich über die Epochen der menschlichen Geschichte hinweg trennt und am Ende doch wieder glücklich vereint.

Ein Weg, der in sieben Szenen – in Anlehnung an die sieben Phasen der spirituellen Entwicklung bei Ignatius von Loyola – geschildert und körperlich-sinnlich erfahrbar wird. Getrennt hatte die zunächst Unzertrennlichen im Mittelalter der Glauben an das Unsichtbare auf der einen Seite und der Wunsch nach nachweisbaren Gewissheiten, wie sie die Naturwissenschaft verfolgt, auf der anderen.

Die interaktive Performancce Mystic Journey / © Herand Müller-Scholtes
Die interaktive Performancce Mystic Journey / © Herand Müller-Scholtes

Bedeutung der Mystik in der heutigen Zeit

"Mystik buchstabiert sich durch den Glauben hindurch", stellt Pastoralreferentin Dung-Lachmann fest. "Und Mystik kommt dem Glauben des Menschen von heute sehr entgegen. Doch obwohl sie eine Tür nach innen öffnet, während die Dogmatik diese nach außen aufmacht, wurde die Mystik allmählich immer mehr zurückgedrängt."

Dabei sei sie in Zeiten, in denen das religiöse Regelwerk oft nicht mehr trage, als innere Anbindung an Gott wichtiger denn je. "Die Menschen hinterfragen heute Dogmen und starre Vorgaben", beobachtet die Theologin. Damit gehe viel Sicherheit verloren. "Und mit einem Mal stehen die Erwachsenen mit einem großen Pfund Kinderglauben da und wissen nicht mehr weiter, weil die Gottesbilder von einst nicht mehr ins Fühlen übersetzt werden können."

Daniel Sprint, Projektleiter "Mystic Journey"

"Die Mystik schafft wieder eine völlig neue Freiheit, mit Gott auf zum Teil ganz alte Weise in Kontakt zu kommen"

Für Dung-Lachmann ist "Mystic Journey" ein Impuls, mit dem bei den Menschen im Veedel – und eben nicht nur innerhalb der Gemeinde – im weitesten Sinne ein Interesse an mystischer Spiritualität geweckt werden kann. Dabei treibt sie die Frage um: Wie lässt sich dieses Interesse zum Blühen bringen? Nicht wenige Gemeindemitglieder der verschiedenen Konfessionen am Ort seien schon seit Jahren an solchen Impulsen interessiert, weiß sie, und nehmen Angebote dieser Art gerne an. So auch Meditationskurse mit spiritueller Selbsterfahrung. "Auch regelmäßige Gottesdienste werden – selbstverständlich ökumenisch – entstehen", so Dung-Lachmann. Bereits im Vorfeld des "Mystic Journey"-Projektes hatte sich ein Arbeitskreis gebildet, der zukünftig speziell solche Anregungen vorantreiben will. 

Auch Daniel Sprint geht es um einen neuen Zugang zur eigenen Spiritualität. Die Sprache der Kunst, erklärt der Pastoraltheologe, sei für ihn eine dieser Optionen, weil ihm nicht intellektuelles Begreifen, sondern die sinnliche Erfahrbarkeit von Spiritualität ein Anliegen ist. "Es geht ums Hören, Sehen und Riechen", sagt er. "Wir müssen ins ganzheitliche Fühlen kommen, weil der dogmatische Rahmen nicht mehr trägt." Die akademische Schule sei ausgereizt. "Jetzt gehen wir ein Stück weiter." Was die Liturgie einst versucht habe, alles in Worte zu gießen, funktioniere heute so nicht mehr. "Die Mystik hingegen", zeigt er sich überzeugt, "schafft wieder eine völlig neue Freiheit, mit Gott auf zum Teil ganz alte Weise in Kontakt zu kommen."

An der Zeit, dass der Mensch in seinem Glauben erwachsen wird

Florian Caspar Richter, Brigitte Breternitz, Elke Waibel, Sway E'fey, Neele Pettig, Stephan Wurfbaum, Daniel Sprint, 2. Von rechts stehend Doris Dung-Lachmann / © Peter Heinrichs
Florian Caspar Richter, Brigitte Breternitz, Elke Waibel, Sway E'fey, Neele Pettig, Stephan Wurfbaum, Daniel Sprint, 2. Von rechts stehend Doris Dung-Lachmann / © Peter Heinrichs

"Die Sehnsucht nach Mystik keimt gerade wieder auf", so sieht es auch Doris Dung-Lachmann. "Uns scheinen die mystisch-spirituellen Wurzeln des Christentums etwas verloren gegangen zu sein – doch ist gerade in ihnen ein hohes Maß an Erfahrung von Gottesnähe spürbar." Dies schließe die Ratio in keinem Falle aus. Im Gegenteil, es binde Denken und Analyse neu ins Spüren ein und schaffe so neue Authentizität. Es sei an der Zeit, dass der Mensch in seinem Glauben erwachsen werde, sich seiner spirituellen Tiefe stelle und seine eigene religiöse Sprache wiederfinde – "und zwar in Beziehung zur alten Kirchensprache".

Schließlich sei jeder in der Taufe zum mündigen Christen berufen. Doch oft seien Menschen in ihrer Religiosität, auch was ihre Sprachfähigkeit betreffe, nicht mitgewachsen. "Die Kunst ist hier nur Mittel zum Zweck, ein Sprachangebot, wenn man so will", ergänzt Daniel Sprint. Letztlich entscheide jeder selbst, ob er sich auf eine Reise in sein Inneres begebe. "’Mystic Journey’ ist dabei nur der Versuch, eine Verbindung zu schaffen zwischen einer formelhaften Religiosität und einem erneuten Zugang aus dem Schatz christlicher Tradition heraus."

Quelle:
DR