Dass die Regierungen Frankreichs, Italiens und Deutschlands in Bezug auf die Aufnahme von tunesischen Migranten Grenzkontrollen im Schengen-Raum anstrebten, sei "zum Davonlaufen", kritisierte Keßler in dem Gespräch am Dienstag (10.05.2011). Die europäischen Regierungen zeigten völliges Desinteresse.
Die Vereinbarung von Schengen gilt als Kernstück des europäischen Zusammenwachsens: Derzeit gehören - mit dem kürzlich aufgenommenen Liechtenstein - 26 Länder dem Schengen-Raum an. Die 400 Millionen Einwohner dürfen sich ohne Passkontrollen von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen bewegen. In den vergangenen Wochen waren rund 25.000 Flüchtlinge vor allem aus Tunesien in Italien angekommen. Viele von ihnen reisten, mit italienischen Aufenthaltsgenehmigungen ausgestattet, nach Frankreich weiter, wo sie Verwandte haben. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sagte der französischen Zeitung "Le Figaro" am Dienstag, die neue Initiative ziele darauf ab, diese Schwäche des Schengener Abkommens zu beseitigen.
Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst sagte, vor allem die italienische Regierung spiele ein schlimmes Spiel: "Als Lampedusa voll war, hat sie lange gezögert, ehe sie Flüchtlinge aufs Festland überführte. Sie hat die Situation eskalieren lassen und ein Bild vom Überschwemmen Europas entstehen lassen." Die EU-Kommission spiele aktuell eine traurige Rolle. "Sie ist in den vergangen Jahren sofort geprügelt worden, wenn sie initiativ wurde." Nun habe sie keine Bereitschaft mehr, mit den Mitgliedsstaaten zu diskutieren.
Kritik an Schengen-Plänen
Auch die vier großen Fraktionen im Europaparlament lehnen Grenzkontrollen im Schengen-Raum ab. Die Lösung für die Migrationsfragen könne nur in "mehr Europa" und nicht in einem "Jeder für sich" liegen, sagte der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Fraktion, Joseph Daul, am Dienstag in Brüssel. Der Fraktionschef der Sozialdemokraten, Martin Schulz (SPD), erklärte, wenn 400.000 Flüchtlinge aus Libyen Tunesien erreichten, dann sei das ein Flüchtlingsdrama, nicht aber die 20.000 Menschen, die in die EU gekommen seien.
Mit den Grenzkontrollen im Schengen-Raum und dem Zustrom der Flüchtlinge aus Nordafrika in die EU befassen sich am Donnerstag die EU-Innenminister in Brüssel. Beschlüsse werden noch nicht erwartet. Die EU-Kommission will zudem bei einem Ministertreffen am Donnerstag mehr Solidarität bei der Wiederansiedlung von schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Nordafrika einfordern.
Tausende erreichen Lampedusa
Das Boot mit vermutlich 600 Flüchtlingen war bereits am Freitag vor Tripolis gesunken, wie nun bekannt wurde. 16 Tote seien bereits geborgen, darunter zwei Kleinkinder, berichtete das UN- Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Dienstag in Genf. Die endgültige Zahl der Toten sei noch nicht bekannt.
Von den Flüchtlingen aus Libyen sind den UN-Angaben zufolge bislang lediglich zwei Prozent nach Europa gekommen. Am Wochenende stieg laut UNHCR die Zahl der ankommenden Flüchtlinge im gesamten Mittelmeerraum an. Allein auf Lampedusa seien fünf Boote mit fast 2.400 Flüchtlingen gestrandet, darunter viele Frauen und Kinder. Alle fünf Boote mussten demnach von italienischen Einsatzkräften gerettet werden; eines sei vor der Insel auf Grund gelaufen. Am Montag seien zudem drei Tote an Land gespült worden, die vermutlich an Bord des verunglückten Bootes waren.
Nach Flüchtlingskatastrophe werfen Jesuiten EU Untätigkeit vor
"Es hat sich nichts getan"
Noch immer machen sich täglich Menschen aus Nordafrika auf den Meerweg nach Europa. Von den 600 vor Libyen gekenterten Flüchtlingen wurden nun 16 tot geborgen. Für Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Brüssel ein Skandal: Nichts habe sich seit Beginn der Ströme Anfang des Jahres getan. Im Gegenteil, sagt er im domradio.de-Interview.
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