“Die Kirche ist nicht abhängig von dieser oder jener Person”, sagt Navid Kermani und schaut vom Domradio-Studiofenster auf den Kölner Dom. Wir seien doch dafür verantwortlich, dass dieses Gebäude nicht einfach zerfalle, sondern dass dort neue Menschen einziehen könnten.
Mit Sorge verfolgt auch er die Krise in der Kirche, die auch eine Krise der Religionen in der säkularen Welt befördert. Das gilt sowohl für die christlichen Kirchen als auch für den Islam, der durch den politischen Islamismus in Verruf geraten ist. Unabhängig davon, was uns gerade beunruhige, sagt er, müsse es jetzt doch darum gehen, jüngeren Menschen die Möglichkeit zu geben, den Glauben, die Traditionen neu zu entdecken – auch unabhängig von der jeweiligen eigenen Konfession.
Glaubensgespräche mit der Tochter
Genau diese Möglichkeit bietet der Autor in seinem neuen Buch an. ‘Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott’. “Da stirbt ein Großvater und bittet auf dem Sterbebett seinen Sohn, den Enkeln die Glaubenstradition der Familie weiterzugeben. Nicht nur die Inhalte, sondern die Art und Weise, die religiöse Haltung”, sagt der Autor.
Navid Kermani ist überzeugter Muslim. Die Religion seiner Eltern und Großeltern ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er sagt, seine Religiosität sei ein großer Schatz, den er - von seinen Eltern überliefert - an seine Kinder weitergeben möchte. “Wenn ich mich frage: Weshalb bin ich eigentlich religiös? Letztendlich nicht als Entscheidung des Verstandes, sondern weil mir das Vorbild meiner Tanten, meiner Eltern, meiner Großeltern - einfach wie sie gelebt haben, wie sie waren, ihre Herzensgüte, ihre Wärme, das Murmeln des Gebetes, all das ist natürlich in meinen Körper übergegangen”, erklärt Kermani.
In abendlichen Gesprächen mit seiner zwölfjährigen Tochter fragt der Autor nach Gott und Religion. Dabei erklärt er der Tochter die Möglichkeit, den Islam in der modernen Welt leben zu können. Natürlich sprechen die beiden auch über die islamistischen Verzerrungen, die den Islam weltweit in Verruf gebracht haben.
Die mystische Kraft der Religionen
“Es ist quasi unsere Pflicht”, ist Kermani überzeugt, “was immer wir von den Institutionen halten und was immer da passiert, unseren Kindern zu vermitteln, was religiöses Leben bedeutet. Denn wenn wir die Religion nicht vermitteln, dann nehmen wir ihnen die Freiheit, überhaupt einen Umgang damit zu finden, das anzunehmen oder abzulehnen. Denn das, was man nicht kennt, kann man auch nicht ablehnen”.
Dabei versucht Kermani seiner Tochter, die mystisch magische Kraft der Religionen jenseits des Zugangs über den Verstand zu vermitteln. Über die poetischen Koranverse zum Beispiel, über die Musik, über die Gebete, über die liturgischen Formen. “Ich glaube, was hier zu wenig beachtet worden ist, ist diese Faszination, die auch von den Formen ausgeht, dass es auch im Christentum etwas Schönes ist, zu einer Messe zu gehen,” sagt Kermani, “wenn sie gut gemacht ist, wenn sie wirklich genau gearbeitet ist, dann ist das ein Erlebnis. Das lässt einen auch als Kind nicht mehr los”.
Jesus hatte keine Kirche
Kermani setzt in seinem Buch keine lauten Ausrufezeichen, sondern er fragt gemeinsam mit seiner Tochter nach Gott. Er ist so offen, auch die eigene Ratlosigkeit einzugestehen, die eigenen Zweifel. “Genauso wie der Erzähler ein Teil von mir ist, ist auch die Tochter ein Teil von mir, diese Erzählstimme der Tochter”, sagt Kermani, “und die Tochter ist am Ende nicht überzeugt. Der Vater resigniert fast am Ende, er hofft, dass irgendwas bei seiner Tochter keimt, irgendwann später vielleicht, ob es nun das Christentum oder der Islam ist”.
Gerade weil die großen religiösen Institutionen an Attraktivität und Zulauf verlieren, sei es umso wichtiger, sagt Navid Kermani, die kostbaren und sinnstiftenden Glaubenstraditionen lebendig zu halten. “Der Großvater stirbt und dieser Erzähler versucht doch etwas zu retten, damit die Tochter, wenn sie irgendwann möchte, zumindest darauf zugreifen kann”.
Schrumpfen als Chance
Das Schrumpfen der Religionen in der säkularen Welt sieht Kermani eventuell auch als eine mögliche Chance. “Vielleicht werden es, wenn es weniger werden, sogar treuere Bewahrer der Glaubenstradition sein”, vermutet Kermani. Wenn es weniger würden, hätten die vielleicht eine größere Identifikation mit der Kirche. Ähnlich wie in der Diaspora. “Jesus hatte keine Kirche”, sagt Kermani. “Ich bin mir sicher, dass die religiöse Institutionen Macht und Geld verlieren. Aber vielleicht werden sie dann auch wieder lebendiger, wacher und besinnen sich auf das Wesentliche. Ich glaube nicht, dass das Wesentliche der religiösen Institutionen gesellschaftliche Macht oder Reichtum ist”.
Das Ende der Kirche in Deutschland als Volkskirche. Kermani verweist darauf, dass diese Art der Existenz als Volkskirche auch eine Entwicklung gewesen sei, die für Deutschland spezifisch gewesen sei. Er vermutet, dass diese singulär doch irgendwie seltsame Herausbildung nach dem Krieg in Deutschland eine deutsche Sondersituation gewesen sei und dass diese gesellschaftliche Machtstellung der Kirchen sich nicht halten werde. Und das wäre auch ohne die durch den Missbrauchsskandel hervorgerufene Krise geschehen.
Kermani sieht es als Chance, sich zurückzubesinnen auf die Schönheit der uralten Glaubenstraditionen, die Gebete, die Heilige Messe, unabhängig vom Hickhack um einzelne leitende Erzbischöfe. Dieses Gezerre verstelle zurzeit den Blick auf die Schönheit des uralten, sinnstiftenden Glaubenslebens, sagt er.