DOMRADIO.DE: Vor einem Jahr sagten Sie im DOMRADIO.DE-Interview, dass in Bezug auf Kardinal Hengsbach zwei Herzen in Ihrer Brust schlagen. Sie gehören ja zum Bistum Essen. Einmal habe er unstreitig seine Verdienste, andererseits dürfte das nicht zu einer falschen Rücksichtnahme für die Aufarbeitung führen. Hat sich in den vergangenen 13 Monaten etwas an Ihrer Einstellung geändert?
Johannes Norpoth (Mitglied der Begleitgruppe als Betroffener aus dem Bistum Essen und Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz): Nein, überhaupt nicht. Hengsbach war zu Lebzeiten bereits eine Person des öffentlichen Lebens, insbesondere im Ruhrgebiet. Er hat viel für diese Kulturregion getan. Das besteht immer noch und das bleibt. Aber ich habe an anderer Stelle schonmal gesagt: Egal wieviel Gutes jemand getan hat, das positive Wirken darf nicht als Make-Up für die hässliche Fratze des Missbrauchs genutzt werden. Insofern bin ich sehr dankbar, dass jetzt der nächste Schritt getan wird, um auch die verschiedenen Zusammenhänge rund um die Causa Hengsbach aufzuarbeiten.
DOMRADIO.DE: An diesem Montag wurde im Rahmen einer Pressekonferenz die Studie zur Aufarbeitung der Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch Kardinal Hengsbach vorgestellt, mit der das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg beauftragt worden sind. Welchen Eindruck nehmen Sie von dieser Vorstellung mit?
Norpoth: Einen positiven Eindruck, weil die Studie sehr breit angelegt ist mit einem historisch sozialwissenschaftlichen Ansatz. Mit Hengsbach steht erstmals ein Kleriker der Weltkirche im Zentrum der Analysen. Eben nicht nur bezogen auf sein Bistum, sondern auch auf sein überdiözesanes Wirken.
Wir reden auch von seiner Zeit als Priester und Weihbischof des Bistums Paderborn, seiner Zeit als Militärbischof in Berlin. Wir reden über seine Zeit als prägende Figur des bischöflichen Hilfswerks Adveniat, und hier insbesondere in der Zusammenarbeit mit Bischof Stehle, der in Südamerika ganz schreckliche Dinge auf seinem Konto stehen hat. Und wir reden letzten Endes auch über den Laienkatholizismus in Deutschland, sprich über das Engagement von Hengsbach im Zentralkommitee der Katholiken (ZdK).
Das ist ein dermaßen breit angelegtes Wirkfeld, in das man einen tieferen und detailreicheren Einblick in die Zusammenhänge ermöglichen will. Zusammenhänge von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche oder anders ausgedrückt: in absolutistisch geführten Organisationen. Welche systemischen Bedingungen haben es einer mit so viel Macht ausgestatteten Person ermöglicht, in diesem Schutz des Systems, sexualisierte Gewalt auszuüben? Das ist eine tiefgehende Fragestellung.
DOMRADIO.DE: Haben Sie konkrete Erwartungen an die Studie?
Norpoth: Ich bin mit konkreten Erwartungen sehr vorsichtig, aber ich bin der Überzeugung, dass wir einen einen sehr tiefen Einblick bekommen in die Zusammenhänge von Macht und Haltung von klerikalen Führungspersönlichkeiten, in Fragestellungen der 1960er, 70er, 80er Jahre, das ist tatsächlich ein Bereich, der auch in der jüngeren Kirchengeschichte nur wenig erforscht ist.
Insofern verspreche ich mir da schon ein Stück weit Detaillierung der systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt. Am Ende aber auch - und da kommt vielleicht die unabhängige Aufarbeitungskommission des Bistums Essen ins Spiel -, eine nachhaltige Aufarbeitung für die Opfer, die sich eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte und des eigenen Traumas erwünscht und erhoffen.
DOMRADIO.DE: Nun sind ja in und um Essen immer noch öffentliche Plätze und Einrichtungen nach Kardinal Hengsbach benannt. Wird sich Ihrer Ansicht nach der Veröffentlichung der Studie etwas ändern müssen?
Norpoth: Das wird man sehen. Die Statue des Bistums ist kurz nach der Veröffentlichung der Vorwürfe im September 2023 richtigerweise abgebaut worden und in den musealen Kellern des Ruhrgebiets verschwunden. Es wird Städte geben, die mit den Ergebnissen zur Umbenennung von Plätzen oder Straßen kommen, so wie das zum Beispiel in Essen der Fall war. Es wird Städte geben, in denen man weiterhin Hengsbach als sakrosankte Figur sieht, die nun einen schwarzen Flecken auf der weißen Weste hat. Und vielleicht wirkt diese Studie dem entgegen, dass Menschen das gesamte Werk, die Schatten- wie die Lichtseiten, gleichermaßen wertig beurteilen.
DOMRADIO.DE: Sie sind Teil einer Begleitgruppe zu der Studie. Welche Aufgaben kommen Ihnen dabei zu?
Norpoth: Ich war ja bereits Mitglied der Studienbegleitgruppe der Essener Aufarbeitungsstudie, die auch von IPP, dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung, maßgeblich vorangetrieben worden ist. Da geht es um laufendes Monitoring, um die Diskussion von Zwischenergebnissen, das Beleuchten besonderer oder einzelner Facetten, auch um den Diskurs verschiedener Zwischenergebnisse, die sich in einer solchen Studie ergeben und die gegebenenfalls noch mal die Konzentration, die Spezifizierung bestimmter Fragestellungen ergeben und letzten Endes die Begleitung der Situation.
Wie offen wird den Forschenden in den Bistümern, bei Adveniat, im ZdK begegnet? Diese Offenheit ist zwingend notwendig, um optimale Ergebnisse zu kriegen. Auch da wirkt eine solche Begleitgruppe mit, die am Ende dafür sorgt, dass während des Prozesses die notwendige Transparenz gegeben ist.
DOMRADIO.DE: Es hat nun ein Jahr gedauert, bis die Studie in Gang kam. In drei Jahren liegen Ergebnisse vor. Kann man nicht verstehen, dass Betroffene, auch Sie als Betroffener, ungeduldig werden? Das dauert doch alles viel zu lange.
Norpoth: Es dauert sehr lange. Ja, mehr Tempo wäre mir auch lieber, das sage ich sehr deutlich. Aber man muss an dieser Stelle zwei Dinge unterscheiden. Erstens, die wesentlichen Fälle sexualisierter Gewalt im Bistum Essen fallen in den Zuständigkeitsbereich der unabhängigen Aufarbeitungskommission, also die direkten Betroffenen-Aufarbeitung - im Sinne der gemeinsamen Erklärung der Bischofskonferenz und der UBSKM in Berlin. Diese wird bereits geleistet und Dr. Ludger Schrapper als Vorsitzender der Aufarbeitung zu Kommissionen des Bistums Essen hat ja auch da entsprechend deutlich ausgeführt, dass an dieser Stelle diese Betroffenenebene bereits von der Aufarbeitungskommission in Angriff genommen worden ist. Da wird gearbeitet.
Die historischen wie auch die sozialwissenschaftlichen Komponenten brauchen einfach Analysezeit. Wir bewegen uns in einem extrem komplexen und breiten Untersuchungsfeld. Und wir haben eine sehr, sehr lange Wirkungszeit von Hengsbach in den einzelnen Institutionen. Insofern geht bei solchen Prozessen tatsächlich viel Zeit ins Land. Da, wie gesagt, die Betroffenenebene nochmal von einer anderen Seite sehr intensiv abgedeckt ist, kann ich mit einer solchen Bearbeitungszeit leben. Natürlich werden wir, wenn wir ein paar Monate oder ein Jahr schneller lieber. Aber hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit, das will ich gerne betonen.
Das Interview führte Johannes Schröer.