Erzbischof Victor Fernandez steht seit seiner Ernennung durch Papst Franziskus zum Glaubenshüter der katholischen Kirche im Zentrum der Aufmerksamkeit der Vatikan-Beobachter. Die am 1. Juli zu Beginn der römischen Sommer-Flaute platzierte Personalie wurde von Vaticanisti, die dem Papst nahestehen, als Sensation bewertet. Aber auch Franziskus-Kritiker diskutieren seither auf Twitter und in Portalen intensiv über den neuen Amtsinhaber jenes Postens, der über Jahrzehnte von konservativen Theologen geprägt wurde.
Vorgänger: Ratzinger
Am längsten hatte Kardinal Joseph Ratzinger – der spätere Papst Benedikt XVI. – die Stelle inne: Von 1981 bis 2005 hat der Deutsche das Image der Behörde, aber auch ihre Strukturen und Denkweisen geprägt. Es ging ihm darum, die Grenzlinie zwischen dem katholischen Glauben und allem, was ihm widerspricht, festzulegen und zu verteidigen. Theologen, die abweichende Lehren in Büchernveröffentlichten, wurden zu klärenden Gesprächen eingeladen; und wenn sie auf Formulierungen beharrten, die nach Meinung der Behörde dem Glauben widersprachen, wurden sie mit Fristsetzung zum Widerruf aufgefordert.
Wer dem nicht nachkam, wurde bestraft. Beim prominenten Befreiungstheologen Leonardo Boff führte das 1985 zu einem einjährigen Lehr- und Redeverbot. Beim Theologen Tissa Balasurya aus Sri Lanka bedeutete das im Jahr 1997 sogar die (später wieder zurückgenommene) Exkommunikation. Die Liste der so Gemaßregelten ist lang und eindrucksvoll.
Konservative Tradition
Ratzingers Nachfolger William Joseph Levada, Gerhard Ludwig Müller und Luis Ladaria waren weniger prozessfreudig, aber dennoch konservativ. Eine Kostprobe davon erlebten die deutschen Bischöfe bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch im November 2022. Damals zerpflückte Ladaria gemeinsam mit zwei anderen Kurienkardinälen einige theologische Beschlüsse des deutschen Reformprozesses Synodaler Weg und mahnte sie, sich an die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) zu halten.
Dass Fernandez sein Amt anders begreifen soll als seine Vorgänger, hat ihm Papst Franziskus persönlich in einem Offenen Brief mitgeteilt. Das Schreiben zeigt nicht nur die Vertrautheit zwischen dem Papst und dem 26 Jahre jüngeren Landsmann.
Fernandez steuert in eine andere Richtung
Es liest sich wie ein Freibrief für einen offenen Umgang mit abweichenden Meinungen von Theologen und wie eine Einladung zur Abkehr von der auf Abgrenzung und Verteidigung eingestellten Linie der Glaubensbehörde. In konservativen Kommentaren wurde deshalb gemutmaßt, Franziskus habe den Tod seines Vorgängers abgewartet, bevor er diesen radikalen Kurswechsel umsetzte; denn letztlich bedeute er einen offenen Bruch mit dem Lebenswerk von Kardinal Ratzinger.
Aber nicht nur von konservativer Seite wird die Personalie Fernandez kritisiert. In Argentinien schrieb die linksradikale Zeitung "La Izquierda Diario" nach der Ernennung, es gebe in der Amtszeit von Fernandez als Erzbischof von La Plata mindestens elf Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester, die er "in unterschiedlicher Form vertuscht" habe. Der bekannteste Fall in der Liste des Blattes ist der ehemalige Gefängnisseelsorger Eduardo Lorenzo, der sich 2019 durch Selbstmord einer Verhaftung durch die Polizei entzogen haben soll.
Vertuschungsvergangenheit?
Dass es ihm schwerfällt, beim Thema Missbrauch Leitungsverantwortung zu übernehmen, hat Fernandez selbst eingeräumt. In einem am Samstag veröffentlichten Brief an die Gläubigen im Erzbistum La Plata hat er in ungewöhnlich freimütiger Art geschildert, wie es der Papst schaffte, ihn trotz schwerwiegender Bedenken doch für das neue Amt zu gewinnen.
Zunächst habe er abgelehnt – unter anderem deshalb, weil er sich nicht zutraue, die zentrale Vatikan-Behörde für den Umgang mit Missbrauchspriestern zu leiten. Diese gehört organisatorisch zur Glaubensbehörde und hat unter Ratzinger und seinen Nachfolgern Hunderte von Priestern weltweit aus dem Klerikerstand entfernt, nachdem sie solcher Verbrechen überführt waren.
"Ich habe keine Vorbildung, um so etwas zu leiten", ließ Fernandez den Papst wissen. Doch dann habe der ihm schriftlich zugesichert,dass er diesen Teil der Behörde nicht persönlich führen müsse. Vielmehr könne er sich ganz auf die Aufgabe konzentriere, die Glaubensbehörde so zu leiten, dass das Verständnis für den Glauben an einen Gott wachse, "der liebt, der befreit, der erhebt und der die Menschen voranbringt".