Ihr Ziel war das Land, von dem der Holocaust ausging: Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion begann vor 30 Jahren die Zuwanderung von Juden nach Deutschland. Der riesige Staat im Osten löste sich nach Michail Gorbatschows Reformen von Glasnost und Perestroika Mitte der 1980er Jahre zunehmend auf. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage dort wurde immer unsicherer - und für Juden, die Antisemitismus ausgesetzt waren und Pogrome befürchteten, gefährlich.
Vor 30 Jahren, am 9. Januar 1991, beschlossen die Ministerpräsidenten eine Regelung zur Aufnahme von Juden aus der früheren Sowjetunion. Die rund 220.000 Juden, die seitdem nach Deutschland kamen, veränderten das jüdische Leben hierzulande einschneidend: Durch ihren Zuzug wurden in manchen Städten erst jüdische Gemeinden gegründet. Zugleich mussten die Neuankömmlinge, die ihr Jüdischsein bis dahin mitunter ganz anders als die bereits hier wohnenden Juden gelebt beziehungsweise nicht gelebt hatten, von den Gemeinden integriert werden.
Auf dem Weg nach Westen
Doch bereits vor der deutschen Wiedervereinigung hatten sich Juden auf den Weg nach Westen gemacht, vor allem in die DDR. Dass sie dem "großen Bruder" den Rücken kehrten und in ein anderes sozialistisches Land gingen, war aus damaliger politischer Sicht nicht gerade unproblematisch und verlangte nach Diplomatie. Am 11. Juli 1990 beschloss der Ministerrat der DDR, dass Juden aus der Sowjetunion die Einreise und der ständige Aufenthalt gewährt würden.
Diese Regelung wurde jedoch nicht in den deutschen Einigungsvertrag übernommen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland erinnert daran, dass "dieses ungeregelte Flüchtlingsproblem" auf Bitten des damaligen Zentralratspräsidenten Heinz Galinski an die Innenministerkonferenz verwiesen wurde. Mit Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von 1991 wurde dann die Aufnahme geregelt, die bis Ende 2004 Bestand hatte und ab 2005 vom neuen Zuwanderungsgesetz abgelöst wurde. Bis dahin galten jüdische Zuwanderer als Kontingentflüchtlinge.
"Großer Gewinn"
Der Anfang im fremden Land gestaltete sich freilich nicht einfach. So war es beispielsweise hochgebildeten Akademikern meist nicht möglich, in ihren Berufen zu arbeiten. Viele hatten jüdische Religion und Tradition im gesellschaftlichen Klima ihrer Heimat nicht praktiziert. Und es sorgte mitunter auch für Konflikte in Gemeinden, wenn Zuwanderer lediglich einen jüdischen Vater hatten. Denn nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, ist die mütterliche Linie ausschlaggebend.
Die Öffnung Deutschlands für die jüdischen Kontingentflüchtlinge sei für die Gemeinden und das Land insgesamt ein "großer Gewinn" gewesen, bilanziert der heutige Zentralratspräsident Josef Schuster. "Zunächst haben wir die Menschen an die Hand genommen und ihnen gezeigt, was jüdische Religion bedeutet, denn die meisten von ihnen konnten in ihren Herkunftsländern die Religion nicht praktizieren."
"Integration bedarf mindestens einer Generation"
Für die Gemeinden sei dieser Prozess nicht einfach, aber letztlich ein "Segen" gewesen, betont Schuster. "Integration bedarf mindestens einer Generation, und das sehen wir auch. Die Kinder der Zuwanderer sind völlig integriert." Laut Zentralrat fand mehr als die Hälfte der Zuwanderer den Weg in die Gemeinden, deren Mitgliederzahlen dadurch teilweise um fast 90 Prozent gestiegen seien. Zuwanderer oder deren Nachkommen engagieren sich in den Gemeinden und sind mittlerweile dort auch in hohen Positionen vertreten. Außerhalb des Gemeindelebens haben sich viele einen Namen auch im gesellschaftspolitischen und kulturellen Bereich in Deutschland gemacht.
Mit zunehmendem Alter der Menschen wird ein Problem offenbar: die Altersarmut. Anders als Spätaussiedler können jüdische Zuwanderer ihre in den Herkunftsländern geleisteten Berufsjahre für die Rente nicht anrechnen lassen. Um das zu ändern, liegen Vorschläge unter anderen von einer Initiative auf dem Tisch: die Gleichstellung von jüdischen Kontingentflüchtlingen und Spätaussiedlern im Rentenrecht sowie ein Härtefall-Fonds. Im Dezember vergangenen Jahres hatten die Länder Bremen, Hamburg und Thüringen einen Antrag zur Verbesserung der Rentensituation für jüdische Zuwanderer dem Bundesrat vorgelegt.