Jane Roe ist weltbekannt. Norma McCorvey (1947-2017) kennt dagegen kaum jemand. Und doch sind sie ein und dieselbe Person.
Jane ist fiktiv, Norma real. Jane Roe, die "Monika Musterfrau" in einem historischen Rechtsstreit, sorgte dafür, dass Millionen Frauen in den USA straffreien Zugang zu einer Abtreibung erhielten. Norma McCorvey selbst brachte allerdings ihr Kind zur Welt, weil das Urteil vor dem Obersten Gericht in ihrem Fall zu spät erging.
Urteil hatte kaum Einfluss auf ihr Leben
Eine Ironie der Geschichte: Das Grundsatzurteil "Roe gegen Wade", das die USA gesellschaftlich veränderte, seit fast 50 Jahren im Zentrum erbitterter Streitigkeiten steht und nun am Freitag vom Supreme Court gekippt wurde, hatte auf das Leben McCorveys kaum praktischen Einfluss. Ihre Vita war stattdessen geprägt von Tragik und Opportunismus.
Aufgewachsen in Texas, lebte sie in prekären Verhältnissen. Der Vater verließ die Familie, als Norma 13 war. Von ihrer alkoholabhängigen Mutter bezog sie regelmäßig Prügel. Schon mit zehn Jahren machte Norma Bekanntschaft mit der Polizei, als sie eine Tankstelle überfiel. Mit 18 bekam sie ihr erstes Baby. Sie trank, nahm Drogen und identifizierte sich früh als lesbisch.
Als sie mit 21 zum dritten Mal schwanger war und abtreiben wollte, landete sie bei einem Anwalt, der sie an Linda Coffee und Sarah Weddington vermittelte. Den beiden Feministinnen boten sich Normas Umstände als Musterfall für eine Klage an, die sie durch alle Instanzen bis zum Supreme Court durchfechten konnten. McCorvey gab die ideale Protagonistin aus der Unterschicht, die sich weder ein Kind leisten konnte noch das Geld hatte, um in einen anderen Bundesstaat zu reisen, in dem eine Abtreibung möglich war.
Die junge Frau hatte keine Vorstellung, worauf sie sich einließ. Eher unfreiwillig gelangte sie als Gegenspielerin des Bezirksstaatsanwalts Henry Wade ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. McCorvey ging es in erster Linie um ihre persönlichen Belange, nicht um einen ideologischen Krieg gegen das texanische Gesetz.
Als Aktivistin taugte sie nicht
Ihre Anwältinnen zeigten ihrerseits wenig Interesse an den Lebensverhältnissen ihrer "Poster-Frau". Diese nahm nicht an einer einzigen Sitzung der dreijährigen Verhandlungen vor dem Richterspruch teil. Bei Gedenkveranstaltungen zum Urteil von 1973 stand sie im Hintergrund. Als Aktivistin taugte sie nicht, wohl aber als Symbol für Millionen benachteiligte US-Amerikanerinnen wie sie.
McCorvey hatte einen gewissen Witz, galt aber als zu vulgär, um eine Bannerträgerin der Feministinnen zu werden. Umgekehrt konnte sie mit ihren Anwältinnen und der Pro-Choice-Bewegung wenig anfangen. Ihre Identität als Norma McCorvey lüftete sie erst Jahre später, nicht unmaßgeblich von dem Gedanken getrieben, nun Geld mit ihrer Rolle als Jane Roe zu verdienen. Dabei blieben ihre Ausführungen nicht immer bei der Wahrheit. In ihren 1994 erschienen Memoiren "I Am Roe" offenbarte sie dafür umso mehr einen Hang zum Opportunismus.
Den gestand sie am Ende ihres Lebens auch ein, als sie klipp und klar zugab, sie habe als Jane Roe das gesagt, was ihr in den Mund gelegt worden sei. "Sie haben mich vor die Kamera gestellt und mir gesagt, was ich sagen soll", sagte sie 2017 dem Regisseur Nick Sweeney. Der hatte in seiner Dokumentation "AKA Jane Roe" ihr Leben verfilmt. "Das war alles nur gespielt?", fragte Sweeney erstaunt. "Ja, und ich war gut darin", lautete die Antwort.
Übertritt zum Katholizismus
Sie meinte damit nicht ihren persönlichen Wunsch, die Schwangerschaft zu beenden, sondern wie sie darüber vor der Öffentlichkeit sprach.
Das Geständnis bescherte den Feministinnen, die "Jane Roe" zu ihrem Aushängeschild gemacht hatten, Jahrzehnte nach dem Grundsatzurteil eine späte Peinlichkeit.
Mitte der 90er Jahre entdeckte McCorvey dann die Religion für sich. Sie ließ sich von einem Baptisten taufen, bevor sie zum Katholizismus übertrat. Was blieb, war Normas Opportunismus, der sie für Abtreibungsgegner genauso wenig zuverlässig machte wie zuvor für das Pro-Choice-Lager. Das änderte nichts daran, dass Lebensschützer versuchten, die ehemals "böse" Norma nun zur geläuterten, "guten" Norma zu verklären.
Wie kaum ein Zweiter hat Dokumentarfilmer Sweeney Einblicke in ihr Seelenleben gewinnen können. Obwohl er die späte religiöse Bekehrung als aufrichtig einstufte, habe sie ihr Lavieren nie bereut. Sie sei weder an der moralischen Dimension der Abtreibungsfrage interessiert gewesen noch an der politischen, urteilt Sweeney. Es sei ihr schlicht um die eigenen Interessen gegangen - mehr nicht.