Nora hat es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht. "Ich wünsche mir Kinder, sehr sogar", sagt die 22-Jährige aus dem Hinterland von New York.
Allerdings nicht jetzt, weil sie arm sei und in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebe. Nach einer Online-Beratung ging alles rasch. Ein paar Tage später erhielt sie Post von "Aid Access". Der telemedizinische Dienstleister verschickte die Medikamente zum Schwangerschaftsabbruch direkt in ihren Briefkasten.
Mit Pillen die Schwangerschaft beenden
Schon Anfang Mai, binnen 24 Stunden nach Veröffentlichung eines durchgestochenen Entwurfs des US-Supreme Court für ein bevorstehendes Abtreibungsurteil, explodierte das Interesse an der Website von Aid Access und vergleichbarer Anbieter, die in den USA wie Pilze aus dem Boden schießen. Allein Aid Access verbuchte Anfang Juni 2.800 Prozent über dem normalen Kundenverkehr.
Ein anderer in Minneapolis ansässiger Dienstleister mit dem denkwürdigen Namen "Just the Pill" hat nach eigenen Angaben in den ersten vier Monaten nach Verabschiedung des strengen Abtreibungsgesetzes von Texas 900 Patientinnen betreut - verglichen mit zuvor 1.300 im gesamten Jahr 2021.
Mit den Präparaten "Mifepriston" und "Misoprostol", nacheinander eingenommen, können Frauen zuhause bis zur zehnten Woche nach der Empfängnis eine Schwangerschaft beenden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hält den Einsatz sogar noch bis zur zwölften Woche für unbedenklich. Laut der US-Arzneimittelbehörde FDA stellt diese Form des Abbruchs für Frauen kein Risiko dar und gilt als sichere Methode.
Die FDA hatte die Präparate schon 2000 freigegeben. Zehn Jahre später machten sie ein Viertel aller Abtreibungen in den USA aus, heute mehr als jede zweite (54 Prozent). Bis zu Beginn der Pandemie mussten die Pillen im Beisein eines Arztes eingenommen werden. Wegen der Infektionsgefahr hob die Behörde diese Vorschrift auf; seitdem werden sie per Online-Bestellung verschickt.
Frauengruppen wie Planned Parenthood, Naral Pro Choice America und Emilys List fühlen sich durch die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in den republikanisch regierten Bundesstaaten bestätigt, strategisch auf den Zugang zu den Abtreibungspillen zu setzen.
So hatte der Bundesstaat Oklahoma erst vor kurzem ein Gesetz erlassen, das so gut wie alle Abbrüche nach der Befruchtung der Eizelle verbietet. Denn dann handele es sich bereits um ein ungeborenes Kind, so die rechtliche Definition.
Frauen in dieser Lage Zugang zu den Präparaten zu ermöglichen, haben sich Anbieter wie Aid Access regelrecht zur Mission gemacht. In Bundesstaaten, in denen der Pillenversand verboten ist, gehört dazu auch der Versand aus Übersee. Denn Sendungen aus dem Ausland sind in der Regel nicht gekennzeichnet und daher für die Behörden schwerer zu entdecken.
Parallel dazu rüsten sich Hersteller wie GenBioPro aus Las Vegas rechtlich gegen Gesetze auf Ebene der Bundesstaaten, die die Zulassung durch die Aufsichtsbehörde FDA unterlaufen. Das Unternehmen hat bereits den Bundesstaat Mississippi verklagt, dessen Abtreibungsgesetz der Anlass für jene Klage war, die nun das seit 1973 geltende Grundsatzurteil "Roe vs. Wade" kippen ließ. Dort ist die Abgabe der Abtreibungspille eingeschränkt, obwohl sie auf Bundesebene erlaubt ist. Juristen halten die Klage für aussichtsreich.
Kommt ein Anstieg von "Abtreibungstourismus"?
Nun, wo "Roe vs. Wade" kassiert ist, rechnen Frauen- und Pro-Choice-Gruppen mit einem Anstieg von Abtreibungstourismus aus "roten", also republikanisch regierten, in "blaue", also demokratisch regierte Bundesstaaten. Damit die Kosten dafür keine zusätzliche Hürde für mittellose Frauen werden, haben Pro-Choice-Aktivisten Fonds eingerichtet. Daraus können Betroffene, die für einen Schwangerschaftsabbruch reisen müssen, logistische und finanzielle Hilfe erhalten.
Die großen Abtreibungsanbieter stellen zudem einen zweiten Fonds für Kandidaten bereit, die bei den Zwischenwahlen im Herbst mit dem Versprechen antreten, einen legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen aufrechtzuerhalten. Dafür stehen in Schlüsselstaaten 150 Millionen Dollar bereit. Ob die Strategie aufgeht, den Zugang zu legalen Abbrüchen nach dem Ende von "Roe vs. Wade" qua Post oder Reise in den Nachbarstaat zu erhalten, ist aber selbst für Experten schwer abzuschätzen.
Eine einfache Entscheidung ist eine Abtreibung in keinem Fall. Das sagt auch Nora, die kein Problem hatte, in New York die Pille per Post zu erhalten. Ihre Mutter half ihr mit 150 Dollar für die Rechnung, und ihr Freund wich nicht von ihrer Seite. Dennoch leidet sie unter dem Gefühl, sie habe etwas Heimliches getan. "Ich fühlte mich sehr einsam, obwohl ich eine riesige Gruppe von Unterstützern hatte."