DOMRADIO.DE: Sie sind in Ihrer Funktion als Pfarrerin auch Notfallbegleiterin und werden unter anderem dann gerufen, wenn Angehörige, Freunde, Nachbarn verzweifelt sind und nicht mehr weiterwissen. Ich stelle mir diesen Gang für Sie nicht leicht vor.
Alexandra Hippchen (ev. Pfarrerin und Notfallbegleiterin in Münster): Es geht gar nicht um leicht oder um schwer. Es geht um notwendig. Und es geht darum, dass wir merken, dass es gut war, dass wir da waren. Und dann hat es nicht was von leicht, sondern von befriedigend.
Wenn wir das Gefühl haben, das war wirklich sinnvoll, dass wir da waren. Mit "wir" meine ich die Notfallbegleitung in der Stadt Münster und die Stadt, Polizei, Feuerwehr, Malteser und beide Kirchen. Von denen wird die Notfallbegleitung in Münster getragen.
DOMRADIO.DE: Mit einem Gottesdienst in der St. Lamberti Kirche in Münster (Samstag, 04.11.2023, 15.00 Uhr, Anm. d. Red.) wollen Sie nun der Opfer und der Rettungskräfte gedenken bzw. danken?
Hippchen: Wir feiern und gedenken sehr bewusst einmal im Jahr, immer um diese Jahreszeit, Anfang November, weil es zum einen natürlich um die Verstorbenen und um die Angehörigen geht, die um sie trauern oder sie vermissen.
Zum anderen aber vor allem auch um die Rettungskräfte, also Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, auch Notfallbegleitung. Denn auch die sind bedürftig nach einem Einsatz, weil manche Einsätze gerade im Straßenverkehr, schon sehr belastend und emotional sind.
DOMRADIO.DE: Wahrscheinlich kommt daher auch das Motto, was sie sich für diesen Gottesdienst ausgedacht haben: "Aus-halten, damit nicht alles im Chaos untergeht."
Hippchen: "Am Anfang war das Chaos." So fängt auch die Bibel an und dann gibt es Ordnung und Ordnung schafft Sicherheit.
Aushalten bedeutet unter den verschiedenen Aspekten tatsächlich vor allem "Ich weiß nicht, ob das noch geht, ob ich das noch mal machen will oder wie komme ich eigentlich da durch?"
Und da haben wir unterschiedliche Aspekte: dieses Aushalten, also halten, festhalten, aber auch aushalten im Sinn von Überleben. Diese Aspekte haben wir in den Gottesdienst eingebaut, wollen darüber nachdenken, singen, beten.
Es ist schon sehr wichtig zu sagen, "Es gibt da was an Trost, auch an Gehalten werden. Es ist nicht nur Verzweiflung."
DOMRADIO.DE: 2022 gab es laut dem Statistischen Bundesamt 2.788 getötete Männer, Frauen und Kinder im Straßenverkehr. Die Zahl ist zwar im Vergleich zu 2009 leicht gesunken aber immer noch viel zu hoch. Welche Präventionsmaßnahmen halten Sie denn für sinnvoll, um die Anzahl der Verletzten und auch der Verkehrstoten zu reduzieren?
Hippchen: Es gibt ein gewisses Aufmerksamkeitsdefizit nach Corona. Jeder ist im Verkehr ganz bei sich. Das finde ich schon mal ein grundsätzliches Problem. Extrem wichtig wäre zum Beispiel eine Helmpflicht. Ich trage auch meistens keinen Helm, muss ich echt gestehen.
Das ist auch etwas peinlich, aber es bräuchte eine Pflicht dafür, weil dadurch ganz viele sehr schwere Verletzungen am Kopf mit Fahrrad oder Pedelec verhindert werden könnten. Und es müsste mehr Möglichkeiten geben, dass Pedelec-Fahrer auf ihrem Gefährt, auf das sie sich setzen, mehr Gefühl für bekommen.
Die Dinger sind schnell und das Bremsen ist dann überraschend. Wir haben auch in diesem Jahr wieder zwei Menschen dabei, die tatsächlich als Pedelec-Fahrer zu Tode gekommen sind. Das ist so tragisch, weil das in der Regel Unfälle sind, die man hätte vermeiden können mit mehr Vorsicht oder auch mehr Kenntnis über dieses Gerät.
Oder die Autofahrer: Ich bin in der letzten Woche mehrfach geschnitten worden, sogar mit einem bösen Blick zurück so nach dem Motto: "Was fällt dir ein, dass du existierst?" Ich sehe auch immer wieder Fahrradfahrer, die mit dem Handy in der Hand unterwegs sind. Und natürlich diese Scooter. Die Sinnhaftigkeit dieser Dinger müsste man doch mal überlegen. Ich glaube, mit denen passieren auch viele Unfälle.
DOMRADIO.DE: Gibt es Ihrer Trauerarbeit einen Unterschied in der Betreuung von Angehörigen, wenn ich jetzt Vergleiche ziehen würde zwischen Verkehrstoten und "normal" verstorbenen?
Hippchen: Häusliche Todesfälle, Suizid, plötzlicher Kindstod, Verstorbene durch Brand, Verkehrsunfall. Das sind sehr unterschiedliche Arten, zu Tode zu kommen. Für die Angehörigen ist der Verlust von für sie wichtigen Menschen immer erst mal ein Schock. Und wir machen auch keine Trauerarbeit.
Das ist anders als die Trauergruppen oder die Hospizarbeit. Denn wir treffen auf Menschen in akuter Krisensituation, die jetzt gerade auch auf unterschiedlicher Weise davon erfahren haben. Davon, dass jemand, der sehr, sehr wichtig für sie war, zu Tode gekommen ist.
Unsere Aufgabe ist es, sie wieder zu stabilisieren und sie mit ihrer eigenen Selbstwirksamkeit wieder in Verbindung zu bringen. Dass sie wissen, das Leben ist nicht aus, denn Ohnmacht ist eines der schlimmsten Gefühle. Es ist eine existenzielle Angst, selber nicht mehr leben zu können. Und das versuchen wir zu minimieren.
Das Interview führte Oliver Kelch.