DOMRADIO.DE: Herr Pfarrer Janßen, Notfallseelsorge ist Seelsorge in extremen Ausnahmesituationen, in denen Menschen von einem Moment auf den anderen allen Halt verlieren und erleben, dass ihr bisheriges Leben aus den Angeln gehoben wird. Bei welchen konkreten Einsätzen ist seelsorglicher Beistand gefragt?
Heinz-Peter Janßen (Pfarrer im Ruhestand und Notfallseelsorger): Es handelt sich fast immer um Situationen, bei denen jemand zu Tode gekommen ist: also Selbstmord, plötzlicher Kindstod, tragische Verkehrsunfälle, plötzlicher Todesfall mit ungeklärter Todesursache oder Überbringung einer Todesnachricht. Die Leitstelle der Feuerwehr alarmiert dann den diensthabenden Notfallseelsorger, wenn die Angehörigen des Verstorbenen diesen Wunsch äußern oder wenn Notarzt, Feuerwehr oder Polizei den Eindruck haben, dass die Betroffenen seelischen Beistand brauchen. Bei der Überbringung einer Todesnachricht werden Polizeibeamte grundsätzlich von einem Notfallseelsorger begleitet.
DOMRADIO.DE: Ihr Einsatz als Notfallseelsorger beginnt also, wenn es um die nicht-sichtbaren Verletzungen eines tragischen Unglücks geht. Was können Sie in solchen Momenten tun?
Janßen: Meistens sind es Traumata oder psychische Schockzustände, die die Betroffenen, Zeugen oder Helfer eines Unfalls lähmen. Was Menschen in diesen Extremsituationen vor allem brauchen, ist jemanden, der ihnen hilft, sich wieder zu fangen und neu zu stabilisieren. Das ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Manchmal ist es das geduldige aktive Zuhören, mal das schweigende Dabei-Bleiben, manchmal die Klärung der nächsten Schritte oder die konkrete Hilfe, diese Schritte auch zu tun. Ganz selten ein Gebet. Aber wie auch immer – wichtig ist die Erfahrung: Da ist jemand, der das Entsetzliche mit aushält, nicht wegläuft und sich Zeit nimmt. Gerade beim Letzteren kommen die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei schon mal an ihre Grenze.
DOMRADIO.DE: Mit Notfallseelsorge assoziieren die meisten dennoch die Institution Kirche. Hier nimmt Kirche ihre Chance wahr, in Grenzsituationen menschlichen Lebens ihrer originären Aufgabe nachzukommen und, wo gewünscht, die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit zu stillen – gerade auch, weil ein tragisches Ereignis oft so sinnlos erscheint…
Janßen: Natürlich spielt die Sinnfrage immer auch eine Rolle – vor allem bei der schwierigen Frage nach dem „Warum“. Aber was für mich hier vor allem Aufgabe der Kirche ist, das ist der Dienst des Samariters aus dem Evangelium, der dem, der da halbtot am Weg liegt, ohne Zögern das gibt, was er zum Überleben braucht. Das ist oft viel elementarer als die philosophisch-theologische Klärung der Frage nach dem Sinn. Wenn dieser Dienst durch Menschen der Kirche – und nicht nur Theologen – geschieht und so mit „Kirche“ im Bewusstsein der Menschen verknüpft wird, dann finde ich das ausgesprochen „missionarisch“.
DOMRADIO.DE: Sie müssen auf außergewöhnliche Gefühlszustände und auf grausame Bilder vorbereitet sein. Was hat Sie an diesem zusätzlichen Aufgabenfeld gereizt?
Janßen: Ich habe diese Aufgabe nicht gesucht, vielmehr ist sie mir vor etwa 18 Jahren „zugefallen“, als sich die Notfallseelsorge bei uns im Gebiet des Rheinisch-Bergischen Kreises etablierte, dringend Mitarbeiter gesucht wurden und ich dafür geworben wurde. Die Wichtigkeit dieses seelsorglichen Dienstes hat mir sofort eingeleuchtet, und ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich mich dieser Anfrage entzogen hätte. Hinzu kam, dass ich durch eine langjährige Mitarbeit bei der Telefonseelsorge auf extreme und belastende Situationen vorbereitet war. Im Übrigen kommen schwierige und verstörende Situationen ja auch in einer Gemeinde vor – jedenfalls habe ich so etwas in meiner fast 35-jährigen Arbeit als Pfarrer auch erlebt.
DOMRADIO.DE: Muss man für eine solche Herausforderung denn auch einen unerschütterlichen Glauben mitbringen?
Janßen: Es ist zunächst einmal ein seelsorglicher Dienst, der für mich dazu gehört, auch wenn er – zugegeben – nicht leicht ist und einen selbst in manchmal geradezu schockierender Weise mit den eigenen Begrenztheiten und auch der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Aber als Kirche dürfen wir uns nicht wegducken, erst recht nicht, wenn wir gefordert sind, anderen bei der Linderung ihres Leides zur Seite zu stehen. Denn Christen sind gerade dort gefragt, wo Menschen – egal welchen religiösen Bekenntnisses – mit der dunklen Seite des Lebens konfrontiert werden. Auch für diese Dimension von Seelsorge bin ich einmal angetreten, und gerade die Notfallseelsorge ist originär „Seelsorge“ im Sinne von menschlichem und seelischem Beistand. Sie ist eine zutiefst sinnvolle Aufgabe. Aber natürlich gibt es auch Erlebnisse – da fühle ich mich als Notfallseelsorger absolut ohnmächtig, weil nichts den Schmerz der Angehörigen zu lindern vermag. Doch dann bin ich erst recht herausgefordert, mein eigenes Gottvertrauen dagegen zu setzen – und die Verheißung Gottes „Ich bin da!“ Ich bin davon überzeugt, dass das gilt – auch in den finsteren Nächten unseres Lebens.
DOMRADIO.DE: Was hilft Ihnen, eine innere Distanz zum Unglücksgeschehen zu entwickeln und dennoch genügend Mitgefühl zu zeigen, um den Betroffenen Hilfestellung geben oder Trost spenden zu können?
Janßen: Ohne eine gute Ausbildung geht es natürlich nicht. Und dabei handelt es sich nicht in erster Linie um irgendwelche Techniken oder Methoden – so wichtig sie sein mögen -, sondern um eine vertiefte Selbsterfahrung und eine Bearbeitung der eigenen „wunden Punkte“, die in entsprechenden Situationen dazu führen könnten, selbst in Panik zu geraten, den Boden unter den Füßen zu verlieren oder mit Verstörung zu reagieren. Das war schon bei der Telefonseelsorge so, danach bei meiner pastoralpsychologischen Ausbildung und natürlich auch bei der Notfallseelsorge.
DOMRADIO.DE: Wie kann denn Trost in einer solchen Extremsituation aussehen?
Janßen: Am wenigsten geht es darum, viel zu sagen, schon gar nicht etwas Frommes. Denn die erbarmungslose Konfrontation mit dem Tod eines nahestehenden Menschen kann nicht weggeredet oder weggebetet werden. Oft kann man nichts tun, als einfach nur da zu sein, die Ohnmacht zu teilen, zuzuhören, Reaktionen und Gefühle der Trauer, der Verzweiflung, der Wut – auch auf Gott – und Fragen nach dem „Warum“ auszuhalten. Die Betroffenen sind oft so hilflos, dass sie manchmal froh sind, wenn ich ihnen ein religiöses Ritual anbiete, an dem sie sich festhalten können, beispielsweise indem ich den Verstorbenen noch einmal segne, oder eine andere in der Situation passende Form des Abschiednehmens wähle. Selbst für nichtgläubige Menschen kann dies ein kleiner Trost sein, noch „irgendetwas“ für den geliebten Menschen tun zu können. Aber natürlich erlebe ich auch, dass religiöse Handlungen ausdrücklich abgelehnt werden.
DOMRADIO.DE: Seit den 90er Jahren haben beide große Kirchen die Notfallseelsorge offiziell als pastorales Feld installiert und dafür ein eigenes Netzwerk an Strukturen geschaffen. Dabei gehören Seelsorgeeinsätze wie die von Ihnen geschilderten doch eigentlich zu den Kernaufgaben eines Priesters…
Janßen: Das Hauptproblem ist sicher die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit der Seelsorger im Notfall. Die immer dünner werdende Personaldecke bei gleichzeitig wachsenden Anforderungen führte dazu, dass Seelsorger, wenn sie gebraucht wurden, oft nicht zeitnah erreichbar waren. Dieses Problem versucht die Notfallseelsorge durch eine Rufbereitschaft rund um die Uhr zu lösen. Die Notfallseelsorgerinnen und –seelsorger kommen aus den evangelischen und katholischen Gemeinden und engagieren sich zusätzlich zu ihrem Gemeindedienst. Bei den meisten steht – wie bei mir auch – der Gedanke dahinter: Hier geht es um eine „urwüchsige“ Seelsorge, die einfach aus christlicher Motivation heraus den Menschen in Not nahe ist, ohne nach Religion, Konfession oder Gemeindezugehörigkeit zu fragen. Weil der Bedarf an Mitarbeitern in der Notfallseelsorge wächst, gibt es mittlerweile auch Nicht-Theologen, die sich zu ehrenamtlichen Notfallseelsorgern ausbilden lassen, was ausdrücklich erwünscht ist.
DOMRADIO.DE: Was kann die Notfallseelsorge leisten und was nicht?
Janßen: Notfallseelsorge ist Krisenintervention. Ihr Ziel ist es, Menschen, die akut durch Trauer, Schock, Schuldgefühle oder Verzweiflung verstört sind, zu stabilisieren und in stützende Hilfssysteme zu überführen: zum Beispiel in die Obhut von Verwandten, Freunden und Bekannten, in die von Gemeindeseelsorge, fachlicher therapeutischer Hilfe oder Selbsthilfegruppen. Das schließt etwa eine nachhaltige Trauerarbeit oder Begleitung durch die Notfallseelsorge aus; aber sie will und soll ja auch nicht in Konkurrenz zu den anderen seelsorglichen Bezügen treten. Es geht um eine Art „Erste Hilfe“ für die Seele.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie persönlich mit den Erfahrungen um, die Ihnen auf dramatische Weise zeigen, wie zerbrechlich die menschliche Existenz ist? Was bedeutet das für Ihre eigene Spiritualität?
Janßen: Mir ist inzwischen sehr bewusst, wie dünn die Eisdecke ist, auf der sich unser Leben abspielt. Und ich habe die Möglichkeit, dass jederzeit der „Ernstfall“ eintreten kann, akzeptiert. Dabei hilft mir natürlich meine Glaubensüberzeugung, dass der Tod nicht das Letzte ist, sondern die Hand Gottes mich hält, wenn die Eisdecke bricht... Es ist mein Glaube, dass niemand ins Nichts hineinstirbt, sondern jeder – nach seinem Tod – eine Heimat bei Gott findet. Gleichzeitig wird mir bei jedem dieser Einsätze bewusst, wie kostbar das Leben ist und wie wichtig, dass ich es mit Sinn fülle.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti. (DR)