DOMRADIO.DE: Sollte man das Fest ganz anders feiern als bisher? Oder ist es vielleicht sogar besser, an alten Ritualen festzuhalten?
Heidi Ruster (Psychologin und Lebensberaterin): Dafür gibt es kein Patentrezept. Der oder die Betroffene muss sich fragen: Was tut mir jetzt gut? Was brauche ich? Das ist das Wichtigste. Es ist auch wichtiger, als andere in ihren Weihnachtserwartungen zu bedienen. Man sollte in sich hinein horchen: Was sagt mein Herz? Möchte ich alleine sein? Brauche ich meine Musik oder meine Rituale, um die Feiertage zu begehen? Oder möchte ich mich lieber ablenken lassen? Möchte ich fröhliche Menschen um mich haben? Das ist schon eine wichtige Entscheidung. Beides ist richtig, sofern es für denjenigen passt.
Wenn ich den Eindruck habe: Das tut mir jetzt gar nicht gut mit Leuten zusammen zu sein, die meine Stimmung nicht aufnehmen können, dann ist es besser, dass man alleine bleibt. Man kann den Verlust alleine auch manchmal fast genießen und richtig trauern. Das ist eine Entscheidung, die eigentlich jeder und jede selber treffen muss.
DOMRADIO.DE: Wie kann man Menschen, die einen Verlust erfahren haben, gerade in der Weihnachtszeit auffangen oder unterstützen?
Ruster: Indem man sie auf jeden Fall nicht vergisst, sie auf die Situation anspricht und genau diese Fragen stellt: Was brauchst du? Können wir dich unterstützen? Sei es durch einen Fahrdienst oder eine Einladung zum Mitfeiern zum Beispiel. Tut dir ein Anruf gut? Sollen wir uns am Feiertag zu einem Spaziergang verabreden. Diese ganzen Möglichkeiten gibt es. Oder sollen wir dich nur abholen zum Gottesdienst oder nach Hause bringen? Man kann auch selber Vorschläge machen. Aber auch Teilhabe kann sehr gut sein: “Könntest du uns helfen? Fühlst du dich in der Lage, unsere Kinder ein bisschen zu beschäftigen? Bratapfel mit denen zu essen, damit wir das Weihnachtszimmer herrichten?”
Wie man helfen kann, ist also eine Frage, die man dem anderen stellen sollte – und das nicht nur einmal. Wenn heute klar ist, ich will alleine bleiben, kann sich das bei den Betroffenen rasch ändern, wenn es näher auf das Fest zugeht. Da ist es schlimm, wenn man gefragt hat und es eine Absage gab. Da heißt es dann vielleicht: “Wir lassen das jetzt”. Aber Trauernde muss man immer wieder fragen, weil die Tagesstimmung sich ändert. Das kann man nicht so festlegen.
DOMRADIO.DE: Das haben wir in der Corona-Zeit im Grunde gelernt: flexibel sein und sich der Situation anpassen.
Ruster: Ganz genau. Es ist wichtig, dass man auf Sicht fährt und immer wieder mal nachfragt. Trauernde sollen spüren, dass die Anderen bei mir sind, um mich wissen, an mich denken. Das Trauern ist nicht nur Privatsache. Leute, die den Schmerz nicht unmittelbar so teilen wie ich, legen Wert auf mich und ich kann denen was geben.
Man kann auch mal mit Nachbarskindern Plätzchen backen - das ist auch eine Frage des Mutes, aufeinander zuzugehen, sowohl vonseiten des Trauernden wie auch von der Seite der Umgebung, der Nachbarn, der Freunde, auch der Verwandten, die fern sind. Die können alle mal mit überlegen.
DOMRADIO.DE: Es gibt auch Familien, die wegen unterschiedlicher Standpunkte nicht zusammen feiern. Im tiefsten Herzen wären einige von ihnen wahrscheinlich doch gerne zusammen. Was ist in diesem Zusammenhang wichtig?
Ruster: Dass man mal wieder altmodisch ans Briefeschreiben denkt. Die Sehnsucht einfach ausdrücken, Kleinigkeiten verschicken. Man kann sich auch mal zum Videocall verabreden. Außerdem muss es nicht immer die ganz enge Familie sein. Es ist ein Konstrukt zu denken, man müsse Weihnachten immer nur mit seinen eigenen Lieben verbringen.
Es gibt auch die Möglichkeit zu sagen: “Ich bin allein und will es eigentlich gar nicht sein”. Das sollte man frühzeitig in der Nachbarschaft erzählen und vielleicht auch auf Leute zugehen: “Weißt du denn schon, was du zu Weihnachten machst? Ich koche gern, ich würde aber gerne für jemanden kochen. Darf ich dich einladen?", wenn man weiß, das er oder sie alleinstehend ist. Da können sich die schönsten Geschichten ergeben.
DOMRADIO.DE: Wie kann man den Tag gestalten, falls man an Weihnachten zum ersten Mal ganz alleine ist?
Ruster: Da ist es wichtig, dass ich um meine Ressourcen weiß. Dass ich sage: “Ich brauche das Ritual, ich suche mir vorher die Musik aus, ich dekoriere. Ich tue alles, was meine Stimmung heller macht.” Dass man sich eben nicht dem Gefühl anheim gibt: "Ach, ich bin doch so alleine".
Oder aber man will das. Dann ist es auch gut. Besser ist aber zu sagen: "Ich will es mir trotzdem schön machen. Das bin ich mir wert. Das habe ich mir so zwar nicht ausgesucht. Es läuft anders als in den anderen Jahren vor Corona, aber es kommen auch wieder andere Zeiten.” Vielleicht lade ich mir die Gäste dann dosiert ein. Da sollte man flexibel und offen bleiben.
Das Interview führte Dagmar Peters.
Information der Redaktion: Der Artikel wurde zum ersten Mal am 21.12.2021 veröffentlicht.