Kein Zuhause, kein Bett und immer auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Wer abends ab 18 Uhr – manchmal bis zu zwei Stunden – vor der Tür des Notels der Spiritaner in der Victoriastraße für einen der begehrten Schlafplätze ansteht, gehört zu den obdachlosen Drogenabhängigen in Köln, die hier für eine Nacht Aufnahme finden. Denn um 20 Uhr öffnet die stadtbekannte Notschlafstelle, zu der auch eine Krankenwohnung mit fünf Betten gehört. Und dann gilt das Prinzip: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Zehn Schlafplätze hält die von Bärbel Ackerschott und einem Team aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern geleiteten kirchlichen Einrichtung bereit. Und da muss man schnell sein, will man von diesem Basisangebot profitieren, das für zwölf Stunden den Komfort einer warmen Mahlzeit, Möglichkeiten der Körperhygiene oder der Reinigung von Wäsche bietet. Bedingung ist einzig die Beachtung der Hausordnung: Im Notel selbst ist Drogenkonsum tabu, der Teller wird leer gegessen und am Tisch einschlafen – das geht gar nicht.
Einer Verelendung vorbeugen
Die meisten Obdachlosen haben zu diesem Zeitpunkt einen ausgefüllten Tag hinter sich. "Denn für Suchtkranke ist nichts wichtiger als ihre Sucht", sagt Ackerschott. Das heißt, ihre Gäste – so nennt die Sozialarbeiterin die Notel-Besucher bewusst – sind oft zwölf Stunden damit beschäftigt, sich Drogen zu besorgen. Ein Großteil der Beschaffung laufe über Prostitution. Da macht sich die 62-Jährige, die 1990 das Konzept für das Notel entwickelt hat, nichts vor. Aber natürlich gehören auch Diebstähle und das Dealen mit Drogen dazu, um jeden Tag die nötige Dosis für den Eigenbedarf sicherzustellen.
"Wenn sie dann abends zu uns kommen, sind die meisten völlig zugedröhnt. Und die Wirkung hält mal gerade bis zum nächsten Morgen. Trotzdem wollen wir hier nicht primär zu einem drogenfreien Leben motivieren", stellt Ackerschott klar. "Vielmehr bieten wir eine absichtslose Gastfreundschaft – zum Überleben und um Verelendung, die mit einem solchen Leben auf der Platte zwangsläufig einhergeht, vorzubeugen. Weg von den Drogen – das muss jeder schon selber wollen. Würden wir das vorschreiben, würde das als Bedrohung empfunden." Sie ist überzeugt: "Erreichen würden wir damit nichts, auch wenn wir manchmal kopfschüttelnd daneben stehen. Wir sind da, wenn wir gebraucht werden, und wollen die Lebensverhältnisse erträglicher machen. Aber wir retten niemanden gegen seinen Willen."
Engagement auf der Basis des Evangeliums
Ackerschott, zu deren Tagesstruktur auch feste Gebetszeiten wie Laudes, Vesper und Komplet mit den Mitarbeitern in der hauseigenen Kapelle und zweimal wöchentlich eine Messe gehören, geht es um die Achtung der Menschenwürde. "Das Evangelium ist dabei eine der Säulen, die uns trägt." Und so fußt ihre Arbeit auf der eigenen Glaubensüberzeugung. "Ich wünsche wirklich jedem Schwerstabhängigen, dass er über die kontrollierte Abgabe sein Heroin bekommt, wenn er es braucht. Trotzdem hoffen wir inständig, dass er eines Tages den Schritt in ein drogenabstinentes Leben schafft und damit nicht mehr am Rand der Gesellschaft steht", erklärt sie. "Warten auf den Augenblick Gottes" nennt sie diesen Spagat und betont: "Wichtig ist: Wir sind da, egal, was der Einzelne verbrochen hat. In gewisser Weise", lächelt sie nachsichtig, "sind unsere Leute wie das Volk in der Wüste, das 40 Jahre gebraucht hat, um ins gelobte Land zu finden."
Missbrauchserfahrung begünstigt Drogenkonsum
Letztlich ziehe sich das Thema Abhängigkeit durch alle gesellschaftlichen Schichten, weiß Ackerschott aus Erfahrung. Niemand sei davor gefeit, bei einer existenziellen Erschütterung in seinem Leben, einem unerwarteten Schicksalsschlag, in eine Suchtproblematik abzurutschen. Manchmal beginne eine solche "Karriere" aber auch als Folge des berühmten Spiels mit dem Feuer und der Neugierde, aus einer Laune heraus nur mal etwas ausprobieren zu wollen. Wie der Einzelne aber letztlich auf Drogen reagiere und ob sich im Verlauf eines zunächst harmlosen Konsums eine Suchtstruktur offenbare, zeige sich meistens erst, wenn es bereits zu spät ist. Und dann gebe es auch noch die sogenannten begünstigenden Faktoren: bei Frauen zu 95 Prozent eine Missbrauchsproblematik oder schwierige familiäre Verhältnisse mit häuslicher Gewalterfahrung. "Viele haben auch einfach nicht gelernt, sich selbst zu begrenzen. Mit fatalen Folgen erleben sie dann den Prozess des Erwachsenwerdens erst sehr verzögert als eine Art ‚Nachreifung’."
Nach wie vor erschüttere sie, dass obdachlose Drogenabhängige sich selbst als „Abfall“ bezeichneten, sagt Ackerschott. Mit einer Namensliste aller Übernachtungsgäste, die sie jeden Tag neu zu der stets aufgeschlagenen Bibel in den Kapellenraum legt, setzt sie daher bewusst ein anderes Zeichen. "Unsere Aufgabe besteht darin", so die Sozialarbeiterin, "diese Menschen zu stärken und vorbehaltslos anzunehmen. Mir ist lieber, diese Menschen schlafen bei uns ihren Rausch aus als in irgendwelchen Tiefgaragen oder unter Brückenpfeilern. Und wenn sie sterben, ist immer noch besser, sie tun es in unserer Obhut als in irgendwelchen Dreckslöchern."
"Beim Dealen steht man mit einem Bein im Knast"
Manchmal – wenn auch selten – wird Ackerschott und ihr Team aber dann doch auch für diesen langen Atem, den die Arbeit mit Suchtkranken erfordert, belohnt. Der Prozentsatz derer, die es schaffen, clean zu werden und aus der Szene auszusteigen, liegt zwar nur bei zwei Prozent. "Aber jeder, der den Mumm hat, von diesem Zeug wegzukommen, schreibt seine ganz persönliche Erfolgsgeschichte." Olli – eigentlich Oliver Kremer – ist Hausmeister im Notel und einer von denen, die irgendwann den Schalter umgelegt haben. Mit 17 saß er zum ersten Mal wegen Diebstahls im Gefängnis. Mehr aus Langeweile hat er dort erst Cannabis, dann Haschisch und schließlich die ganze Palette ausprobiert. 1990 wird er obdachlos.
Mittlerweile konsumiert er harte Drogen. Immer wieder versucht er den Entzug. Doch sechs Therapien bricht er ab. "Ich war noch nicht soweit", erklärt er rückblickend. 2007 nimmt der damals 44-Jährige am Methadon-Programm teil. Wieder ohne Erfolg. Olli wird rückfällig. Jeden Tag häuft er bis zu 150 Euro Schulden an. Wieder Haft wegen Beschaffungskriminalität und Dealerei. "Bei Drogenhandel steht man immer mit einem Bein im Knast", erläutert er, "trotzdem ist ein freier Tag der blanke Horror." "Ein Hilfesystem kann sich da komplett abstrampeln, wenn der persönliche Reifungsprozess noch nicht eingesetzt hat", kommentiert Ackerschott, die unzählige solcher Geschichten wie die von Olli kennt.
Stabil genug für ein Leben ohne Drogen
Doch der heute 56-Jährige schafft schließlich den entscheidenden Schritt. Er will aus diesem Teufelskreis raus, obwohl "jeder Entzug schlimmer wird", wie er erzählt. Endlich greift die psychosoziale Betreuung der Drogenhilfe. "Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich für ein Leben ohne Drogen stabil genug bin." Zu diesem Zeitpunkt hat Olli 25 Jahre Abhängigkeit hinter sich und in der Summe 15 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Heute lebt er in einer kleinen Wohnung in Köln und erledigt als Teilzeitbeschäftigter Garten-, Haus- und Reparaturarbeiten im Notel. Dass er früher mal auf der anderen Seite gestanden hat und weiß, wie sich Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Isolation anfühlen, hat er nicht vergessen. Im Gegenteil: Der persönliche Hintergrund macht es ihm leicht, mit den Übernachtungsgästen des Notels "auf Augenhöhe" in Kontakt zu kommen und sehr behutsam zu vermitteln, dass es nie zu spät ist, den Sprung in ein neues Leben – ohne Abhängigkeit – zu wagen.
"Die gut organisierten unter unseren Übernachtungsgästen haben gleich morgens früh den ersten Schuss parat, wenn es wieder raus auf die Straße oder zu einem der Hot spots in der Stadt geht", sagt Bärbel Ackerschott. Ihr Mitarbeiter Olli gehört nicht mehr dazu. Er greift, wenn alle spätestens um acht die Notschlafstelle verlassen haben müssen, zu Putzeimer und Besen. Mit der Reinigung der Zimmer beginnt für ihn ein geregelter Arbeitstag. Und das nun schon seit neun Jahren. Die Jagd nach dem nächsten Schuss bestimmt sein Leben schon lange nicht mehr.