Das politische Klima war aufgeraut wie selten. Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition polarisierte die Bundesrepublik zu Beginn der 1970er-Jahre. Vor 50 Jahren, am 3. Juni 1972, traten die Ostverträge mit Polen und der Sowjetunion, der Warschauer und der Moskauer Vertrag, in Kraft. Am 17. Mai 1972 hatte der Bundestag nach einer dramatischen Debatte den Verträgen - bei weitgehender Enthaltung der Unionsfraktion - zugestimmt.
Willy Brandt setzte sich für Frieden ein
Bereits kurz nach ihrem Amtsantritt hatten Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) begonnen, sich um Gewaltverzichtsverträge mit der Sowjetunion und Polen zu bemühen.
"Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen", versicherte Brandt in seiner Regierungserklärung 1969. Schon kurze Zeit später trafen deutsche und russische Delegierte zu Sondierungsgesprächen in Moskau zusammen. Parallel dazu verhandelten die vier Siegermächte das Viermächteabkommen über Berlin, das am 3. September 1971 unterzeichnet wurde und den Weg für die Entspannungspolitik freimachte.
Debatte um Ländergrenzen
"Wandel durch Annäherung", so umschrieben Brandt und sein Staatssekretär im Kanzleramt, Egon Bahr (SPD), ihr politisches Credo. Es ging um die Auflösung der starren Konfrontation der Blöcke, um Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der - als Folge des Zweiten Weltkriegs entstandenen - Grenzen in der Mitte Europas.
Diese Vergangenheit war schmerzhaft nah: Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Vertreibungen von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten lagen nur 25 Jahre zurück. Die Erinnerung an die verlorene Heimat war bei vielen sehr lebendig; die Vertriebenenverbände waren einflussreich.
Große Zustimmung erfuhr die Ostpolitik von den westlichen Alliierten, da sie sich in die Politik der Ost-West-Entspannung einfügte, die von den USA vorangetrieben wurde. Innenpolitisch aber gab es heftige Auseinandersetzungen: Die CDU/CSU-Opposition geißelte die Ostverträge als "Ausverkauf deutscher Interessen". Sie fürchtete, dass die Oder-Neiße-Linie endgültig als Westgrenze Polens und die DDR als zweiter deutscher Staat anerkannt würden.
22-stündige "Redeschlacht" im Bundestag
Beide Verträge waren bereits 1970 ausgehandelt worden, benötigten aber noch die Zustimmung des Parlaments. Als Bundeskanzler Brandt am 23. Februar 1972 ans Rednerpult trat, um vor der ersten Lesung zur Ratifizierung der Ostverträge eine Erklärung zur Lage der Nation abzugeben, war das der Beginn einer bemerkenswerten Redeschlacht.
Insgesamt 22 Stunden, verteilt auf drei Tage, stritten sich Koalition und Opposition. Brandt betonte, nur durch bessere Beziehungen zwischen Ost und West werde es auch "bessere Bedingungen für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit" geben. Oppositionsführer Rainer Barzel erklärte demgegenüber, mit der Anerkennung der bestehenden polnischen Grenzen und dem Verzicht auf Gebietsansprüche verzichte die Bundesrepublik endgültig auf die deutschen Ostgebiete.
Patt-Situation bei Verhandlungen
Die Standpunkte standen unversöhnlich gegeneinander. Selbst in der sozialliberalen Koalition wuchs die Zahl der Kritiker. Ihre Mehrheit schmolz, weil mehrere Abgeordnete zur Union übertraten. Am 24. April 1972 wagte Barzel mit einem konstruktiven Misstrauensvotum den Versuch, die Regierung zu stürzen. Doch er scheiterte - vermutlich auch durch Bestechungsgeld aus der DDR.
Um das Patt aufzulösen, einigten sich Barzel und Brandt auf einen Kompromiss: Eine "gemeinsame Entschließung" sollte es der Union erleichtern, die Verträge passieren zu lassen. Im Kern legte die Entschließung fest, dass die Abkommen nur als Übergangsregelung zu verstehen seien. Die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands bleibe einem Friedensvertrag vorbehalten.
Damit konnten die Ostverträge ratifiziert werden. Doch die sozialliberale Regierung sah sich so geschwächt, dass sie für November vorgezogene Bundestagswahlen ansetzte. Sie wurden zu einer triumphalen Bestätigung der Ostpolitik.
Folgen für die Kirche
Auswirkungen hatten die Verträge auch auf die katholische Kirche: In der Folge integrierte Papst Paul VI. die früher deutschen Bistümer im Osten in die polnische Kirche. Zugleich ernannte der Vatikan für die von dort vertriebenen deutschen Katholiken drei Apostolische Visitatoren. Die Bischofskonferenz setzte zusätzlich zwei Kanonische Visitatoren für Vertriebene ein, die aus dem deutschen Anteil der Erzdiözese Olmütz und der Grafschaft Glatz stammten.