Am 18. November 1918 errangen die Letten nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft durch Deutsche, Polen, Schweden und Russen zum ersten Mal ihre vollständige Unabhängigkeit. Dieses Ereignis heute in Freiheit feiern zu können, ist für das Land am nordöstlichen Rand der EU alles andere als eine Selbstverständlichkeit, litt es doch die Hälfte dieser 100 Jahre unter der Sowjetdiktatur. Einen Friedensmann wie Papst Franziskus in diesem Jubeljahr begrüßen zu dürfen, hat daher für das ganze Land einen hohen Stellenwert.
Der lettische Staat zeigt sich nicht nur im Fall des spontanen Feiertags zum Papstbesuch aufgeschlossen gegenüber den christlichen Kirchen, bestätigt Rigas katholischer Erzbischof Zbigņev Stankevičs: "Unsere politische Kultur hat in den vergangenen 30 Jahren einen tektonischen Wandel vollzogen". Er weiß, wenn die drei großen christlichen Konfessionen des Landes, die evangelisch-lutherische, die russisch-orthodoxe und die katholische Kirche an einem Strang ziehen, werden sie durchaus von den staatlichen Institutionen gehört. Dennoch betont Erzbischof Stankevičs: "Nicht immer reagiert die Politik auf unsere Initiativen, aber wir lernen, was möglich ist."
Gemeinsam repräsentieren die drei großen christlichen Konfessionen rund zwei Drittel der Bevölkerung. Die evangelisch-lutherische Kirche bildet mit rund 35 Prozent der Bevölkerung die größte und die russisch-orthodoxe Kirche mit knapp zehn Prozent die kleinste der drei. Mit rund 418.000 Gläubigen gehören gut 21 Prozent der Bevölkerung der katholischen Kirche an. Vier Diözesen erstrecken sich über den Staat an der Ostsee, die Bistümer Liepāja, Jelgava, Rezekne-Aglona und das Erzbistum Riga.
Zwischen Diaspora und Volkskirche
Aufgrund der historisch-konfessionellen Prägung leben in weiten Landesteilen Lettlands katholische Christen in der Diaspora. Sie bilden eine kleine religiöse Minderheit innerhalb der Bevölkerung. Im Südosten des baltischen Staates, in der Diözese Rezekne-Aglona, gibt es dagegen volkskirchlich geprägte Regionen. Denn war Kurland durch deutschen Einfluss traditionell evangelisch-lutherisch geprägt, beeinflusste das katholische Polen-Litauen die südöstliche Lettgallen. Unter russischer und später sowjetischer Vormacht kamen außerdem zahlreiche russisch-orthodoxe Christen vor allem in den Osten des Landes. Die repressive Religionspolitik der Sowjetdiktatur ließ zudem die Zahl der religionsungebundenen Einwohner anwachsen. So befinden sich katholische Christen heute überall in Lettland in der Minderheit.
Und: Katholiken finden sich in allen Bevölkerungsteilen. Ob Letten, Russen oder Migranten, die katholische Kirche versteht sich als Brücke zwischen den Ethnien. Rund ein Drittel der Bevölkerung zählt zur russischen Minderheit. In der katholischen Kirche im Osten des Landes wird daher mehrheitlich Russisch gesprochen, neben Lettisch die zweite Gottesdienstsprache in Lettland. „Wir sind eine universale Kirche und versuchen alle zu vereinigen“, betont Erzbischof Stankevičs, „das gibt uns eine gewisse moralische Autorität im Land.“
Solidarität aus Deutschland
Trotz hoher Akzeptanz, finanzielle Unterstützung vom Staat gibt es für religiöse Gemeinschaften nicht. Die katholische Kirche lebt von Kollekten und Spenden, die oft nur für das Nötigste reichen. Für die Instandsetzung oder den Neubau von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen bleibt dagegen kaum etwas übrig. Dabei galt es, nach dem Untergang des Sowjetregimes die Kirche wieder aufzubauen. Die kirchliche Infrastruktur war marode oder fehlte ganz.
Doch Dank der Solidarität von katholischen Christen vor allem aus Deutschland konnte der Neuaufbruch gelingen. So ermöglicht das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken bis heute, dass kirchliches Leben in dem baltischen Staat wachsen kann. Allein in den vergangenen sechs Jahren unterstützte das Spendenhilfswerk über 80 Projekte mit insgesamt fast 3,2 Millionen Euro. Kirchen wurden gebaut, katholische Schulen gegründet, Klöster und ein Exerzitienhaus errichtet, mit sozialen Projekten gestartet zum Beispiel Kleiderkammern, Kindergärten, Suppenküchen oder ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige.
Der Papst besucht Terra Mariana
Wenn Papst Franziskus am 24. September Lettland besucht, kommt er nach Terra Mariana, in das Land Mariens. Papst Innozenz III. weihte 1215 die Region der Gottesmutter und gab ihr diesen Namen. Auch heute zeigt sich eine besondere Marienfrömmigkeit, insbesondere in Aglona, dem großen, internationalen Marienwallfahrtsort, der weit nach Weißrussland und Russland hinein ausstrahlt. Allein zu den Wallfahrtstagen um Mariä Himmelfahrt am 15. August pilgern mehr als 100.000 Gläubige in den Ort in Lettgallen.
Bereits vor 25 Jahren feierte mit Johannes Paul II. schon einmal ein Papst in Aglona die Messe. Fast eine halbe Million Pilger sollen damals dabei gewesen sein. Nun zelebriert Papst Franziskus im geistlichen Herz Lettlands. Der Gottesdienst gilt auch diesmal als Höhepunkt der Papstreise. Das Leitwort von Aglona: "Zeige dich als Mutter“ dient als Motto für den Besuch. Darin zeige sich die Hoffnung, betont Erzbischof Stankevičs, auf einen geistlichen Aufbruch im ganzen Land: "Vielleicht wird es ja der Beginn einer neuen Erweckungsbewegung."