Eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse berge die Gefahr, nur die Ungeheuerlichkeit zu sehen und nicht das ganze Drama, das sich hinter diesem Krieg abspiele, so das Kirchenoberhaupt in einem am Dienstag veröffentlichten Interview mit Redakteuren der europäischen Zeitschriften der Jesuiten. Dieser Krieg sei grausam und brutal, aber "vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert worden", erklärt Franziskus weiter.
Dass er mit dieser Aussage "pro Putin" sei, lehnte Franziskus ab. Dies wäre "vereinfachend und falsch". Bei aller "Grausamkeit der russischen Truppen" dürfe die Lösung von Problemen nicht vergessen werden. Die Wurzeln und Interessen dieses Krieges seien sehr komplex.
Lob für das ukrainische Volk
Zugleich lobte Franziskus das "Heldentum des ukrainischen Volkes": "Was wir vor Augen haben, ist eine Situation des Weltkriegs, der globalen Interessen, der Waffenverkäufe und der geopolitischen Vereinnahmung, die ein heldenhaftes Volk zum Märtyrer macht."
Die Russen hätten sich verkalkuliert, als sie dachten, der Krieg würde innerhalb einer Woche vorbei sein. "Sie fanden ein mutiges Volk vor, ein Volk, das ums Überleben kämpft", so der 85-Jährige.
Beeindruckt zeigte sich Franziskus von den ukrainischen Frauen, "deren Ehemänner dort kämpfen" und die sich trotzdem um russische Soldaten gekümmert hätten, "als sie sich ergaben".
Mehr Hilfsbereitschaft und Gespräche
Jedoch äußerte er auch seine Sorge vor einem Nachlassen der Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten aus dem Kriegsgebiet: "Wir müssen über die konkrete Aktion des Augenblicks hinausschauen und sehen, wie wir sie unterstützen können, damit sie nicht in den Menschenhandel geraten, nicht ausgenutzt werden, weil die Geier schon kreisen."
Weiter äußerte Franziskus die Hoffnung auf ein mögliches Gespräch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill I. im September in Kasachstan: "Ich hoffe, dass ich ihn begrüßen und ein wenig mit ihm als Seelsorger sprechen kann." Die Absage des ursprünglich geplanten Gesprächs am 14. Juni in Jerusalem bezeichnete Franziskus als "einvernehmlich".