DOMRADIO.DE: Mit seinem persönlichen Brief wollte der emeritierte Papst zum einen seine Scham angesichts der Missbrauchsfälle in der Kirche ausdrücken, aber auch die konkreten Vertuschungsvorwürfe gegen sich als früheren Münchner Erzbischof zurückweisen. Warum spricht er jetzt in diesem Schreiben vom Jüngsten Gericht und dem endgültigen Richter?
Bruder Paulus Terwitte (Kapuzinerpater und Theologe): Das Jüngste Gericht ist das, was wir Christen erhoffen, dass am Ende Gott die Gerechtigkeit walten lässt und die Übeltäter ihre gerechte Strafe bekommen. Wobei wir dabei erwarten, dass damit auch Barmherzigkeit verbunden ist. Aber ich halte das für eine billige Verschiebung von Verantwortung. Jetzt ist Gericht zu halten und jetzt hätte Papst Benedikt Namen nennen können, wer damals gedeckt wurde, wen er gedeckt hat und welche Opfer es waren, die durch ihn praktisch weiter keine Gerechtigkeit erfahren haben. Mich hat der Brief auch enttäuscht.
DOMRADIO.DE: Bleiben wir jetzt noch mal beim Jüngsten Gericht, vor allem in der Offenbarung des Johannes. In der Bibel erzeugt dieses Jüngste Gericht verstörende Bilder. Wie können wir uns das heute vorstellen? Als Ende der Welt?
Bruder Paulus: Ich glaube, dass das Jüngste Gericht, wie es Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, theologisch betrachtet eine parametrische Rede ist, das heißt eine Rede, die sagen will: Es ist verdammt ernst gemeint mit der Ethik. Das ist nicht nur so ein Tralala, sondern das ist ernst gemeint. Und wer sich verfehlt in seinen guten Taten, im richtigen Tun, wer egoistisch gehandelt und die Falschen deckt, wer eher Verantwortung für das System als für die Opfer des Systems wahrgenommen hat, der wird vor Gott zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Aussicht auf das Jüngste Gericht soll eigentlich denen, die jetzt handeln, sagen: Pass bloß auf, was du jetzt tust, und nimm das ernst, was du glaubst, was du eigentlich zu tun hast und lass nicht falsche Argumente gelten, damit die Falschen geschützt werden und diejenigen, die wirklich geschützt gehören, am Ende fallen gelassen werden.
DOMRADIO.DE: Benedikt schreibt, dass Jesus nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder. Das Jüngste Gericht ist in diesem Sinne also kein Droh-, sondern ein Froh-Gericht?
Bruder Paulus: Ich glaube, dass wir davon reden müssen, dass das Jüngste Gericht zunächst einmal die Dinge sehr ernst nimmt. Gott nimmt uns ernst in dem, wie wir gehandelt haben. Wenn wir falsch gehandelt haben, wird es uns super wehtun. Es wird uns aufgehen. Das ist eigentlich dieses Höllenfeuer und Fegefeuer. Es wird uns super wehtun, wenn uns plötzlich aufgeht, wie falsch und egomanisch wir gehandelt haben.
Aber es geht uns auch auf, dass wir falsch gehandelt haben, obwohl wir dachten, es sei richtig gewesen. Das erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Barmherzigkeit Gottes nimmt den Schmerz nicht einfach weg, aber sie steht zu uns im Schmerz. Dafür steht das Kreuz.
Von daher kann ich nur raten, wirklich das Jüngste Gericht wieder neu in den Blick zu nehmen, damit wir ganz ernsthaft uns heute fragen, wo zu viel zugedeckt wird und wo wir nicht aufdecken wollen, weil wir einfach sagen, das soll Gott am Ende machen, da soll er sich die Finger schmutzig machen.
DOMRADIO.DE: Wie verhindert man das, dass dadurch, dass wir das Jüngste Gericht zitieren, sozusagen dieser Eindruck entstehen kann, dass wir uns vor einer echten Aufarbeitung im Hier und Jetzt drücken und auf ein abstraktes Gericht im Jenseits vertrösten?
Bruder Paulus: Das ist ein großes Missverständnis auch theologischer Art, dass man sagt, später wird Gott das schon alles richten, darum können wir jetzt einfach so weitermachen. Das wäre ein totales und fatales Missverständnis.
Ich habe das bis jetzt immer so verstanden, dass ich auf jeden Fall jetzt schon vor dem Gericht stehe. Ich möchte, wenn ich jetzt handele, es verantworten. Das heißt, eine Antwort geben auf den Ruf Gottes an mich, wahr, gerecht und klar zu handeln und auch zu entscheiden, nicht die Falschen zu decken, nicht die Armen sozusagen hinten runterfallen zu lassen oder nicht auf meinen Ruf zu achten, jede Selbstsucht abzulegen, das will eigentlich der göttliche Richter.
Wenn wir das jetzt nicht tun, dann wird er uns das einmal zeigen, dass wir es getan haben. Bei Gott wird nichts, aber auch gar nichts, einfach nur wieder fallengelassen. Am Ende wird uns dann hoffentlich Barmherzigkeit erwiesen. Aber das ist wie der liebende Blick der Mutter, der das Kind, das gesündigt hat, trifft. Dann wird es einem erst recht ganz elend zumute, wenn man sieht, wie man geliebt wird, obwohl man Unrecht getan hat.
DOMRADIO.DE: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen, das nicht ungeschehen gemacht werden kann. Kann da der Hinweis auf die göttliche Gerechtigkeit vielleicht doch ein bisschen hilfreich sein, da ja viele Täter auch schon tot sind und zumindest nach weltlichen Gesichtspunkten gar nicht mehr bestraft werden können?
Bruder Paulus: Es ist tatsächlich so, dass den Opfer, deren Täter gestorben sind, nur noch bleibt, dass ihr erlittenes Leid anerkannt wird und dies zu nachhaltigen Änderungen in den Strukturen führt, die zu diesem Leid und dessen Vertuschung gehörten. Für die Täter selber bleibt ihnen nur hoffen oder besser – zu erwarten - dass Gott auch diesen Tätern ein strenger Richter ist und dass diese Täter sehen, wie viel Leben sie kaputt gemacht haben.
Aber ich würde es niemals als ein tröstliches Zeichen nehmen. Wobei wir als Menschen alle miteinander herausgefordert sind, dass die Dinge, die uns angetan worden sind, weder von uns noch von irgendeinem anderen wieder gutgemacht werden könnten. An der Stelle fängt man an, über eine Theologie des Kreuzes zu reden. Aber ehrlich gesagt, ich möchte diese fromme Rede jetzt gar nicht tun, weil derjenige, der das erfahren hat, von denen, die so eine Botschaft ausrichten, diese Botschaft einfach nicht hören und nicht verstehen kann. Ich hätte erwartet, dass Papst Benedikt gesagt hätte: Ich habe dafür gesorgt, dass meine eigene Botschaft unwirksam geworden ist durch das, was ich zugelassen habe.
DOMRADIO.DE: Zum Schluss eine ganz persönliche Frage: Haben Sie Angst vor dem Jüngsten Gericht?
Bruder Paulus: Angst habe ich nicht, aber ich fürchte es. Genauso wie ich fürchte, dass heutzutage schon manches aufgedeckt wird, was ich tue, denn auch ich bin ein Sünder. Die Scham ist etwas ganz Wichtiges, dieses Bewusstsein, dass ich mich schäme, weil ich nicht so lebe, wie wie ich das eigentlich hätte tun müssen. Wie der Apostel Paulus schon sagt: Das, was ich will, das tue ich nicht. Das, was ich tue, das will ich nicht. Wer wird mich erlösen aus meinem dem Tode verfallenen Leib? Von daher kann ich sagen, ich fürchte das göttliche Gericht. Je mehr ich es fürchte, umso fröhlicher werde ich, weil es mich zu einem noch - hoffentlich - aufrichtigeren, wahrhaftigeren und liebevolleren Menschen heute macht.
Das Interview führte Hilde Regeniter.