DOMRADIO.DE: Es gibt viele Leute, die würden sich noch nicht einmal trauen, mit einer Bus-Gruppe in eine Konfliktregion wie Israel und Palästina zu reisen. Jetzt haben Sie es alleine mit dem Fahrrad im April gemacht. Hat man da nicht ein wenig Respekt oder Angst vorher?
Gereon Alter (Pfarrer in Essen und Sprecher vom "Wort zum Sonntag"): Das ist die Frage, die mir am häufigsten vorher gestellt worden ist. Ist das nicht gefährlich? Ist das nicht unsicher? Das Bild dieser Region ist uns ja vor allem durch die Medien vermittelt. Viele haben den Eindruck: Alles ist gefährlich, wo immer man sich bewegt.
Aber das ist es nicht, sobald man ein bisschen differenzierter hinschaut. Natürlich ist es im Gaza-Streifen zurzeit gefährlich. Aber da reist auch niemand hin. Ich bin also eher froh, als mit Sorge hingereist.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie haben sich vorher einen genauen Plan mit dem Gedanken gemacht: In die Ecke kann ich fahren, in die Ecke kann ich nicht fahren?
Alter: Genau. Zu jeder Radtour gehört eine gute Vorbereitung, nicht nur aufgrund der Sicherheitsfrage, sondern auch, weil ich das möglichst intensiv erleben wollte. Und je mehr man über ein Land und über eine Region weiß, desto mehr erlebt man.
DOMRADIO.DE: Sie waren mehrmals in den USA unterwegs, sie waren in den verschiedensten Ecken der Welt. Was hat die Reise von den anderen Reisen unterschieden?
Alter: Es kommen verschiedene Dinge zusammen. Zum einen die Vielfalt des Landes, aber auch die Zerrissenheit. Man begegnet einer uralten Kultur. Gleichzeitig ist es aber auch ein hochmodernes Land. Sie haben es mit verschiedensten Religionen zu tun, nicht nur mit Muslimen und Christen, sondern auch der Bahai-Religion, die in Haifa ihr Zentrum hat.
Wir haben es mit unterschiedlichen Strömungen zu tun. Orthodoxe oder Liberale. Es ist eine sehr bunte Kultur.
Und dann war die Landschaft auch faszinierend. Paradoxerweise da, wo Israel am meisten verletzt ist, nämlich auf dem Golan. Denn da haben sich die schlimmsten Konflikte und Kriege zugetragen. Aber dort ist es landschaftlich auch am schönsten. Da machen die Israelis heute selbst Urlaub. Und das war für mich - neben dem See Genezareth - das Highlight dieser Tour.
DOMRADIO.DE: Der Golan ist eine Urlaubsregion und auch ein Weinanbaugebiet. Und auf der anderen Seite fliegen einem die Kampfjets über den Kopf, oder?
Alter: In der Tat. Es ist ein sehr boomendes Weinbaugebiet. Die Golan-Weine werden mittlerweile exportiert, werden hochpreisig gehandelt. Man kann dort wunderbar abends bei einem Gläschen Wein sitzen und in die Tiefe des Jordangrabens schauen, in den See Genezareth gehen. Das ist die Idylle.
Und dann erlebt man in der Tat, dass F-15-Geschwader darüber hinwegziehen. Man weiß nicht so genau, ob sie die Grenze zum Libanon sichern oder ob sie auf einem Einsatz nach Syrien sind.
Was ich selbst nicht erlebt habe, aber Menschen immer wieder erzählen, ist, dass man in grenznahen Gebieten auch schon von Kampfhandlungen in Syrien etwas mitbekommen kann. Das habe ich so nicht erlebt. Aber die Präsenz des Militärs, insbesondere auch der UN-Truppen; der Blauhelm-Soldaten, die war schon spürbar.
DOMRADIO.DE: Aber hat man da nicht tatsächlich ein mulmiges Gefühl, wenn man da allein mit dem Fahrrad unterwegs ist?
Alter: Ich bin nicht alleine dort. Vor allem leben dort Menschen ihren Alltag. Sie sind immer da. Sie können nicht mal eben weg. Und Israel ist eines der Länder, das die höchsten Sicherheitsstandards in der Welt hat. Wenn eine Gefahr bestünde, würde entsprechend auch gewarnt.
DOMRADIO.DE: Den Satz hat man in der Altstadt von Jerusalem gesagt: "Das ist der sicherste Ort der Welt, weil es nirgendwo mehr Sicherheit und Kameras und alles Drum und Dran geben kann."
Alter: Die grenznahen Bewohner haben einen gewissen Galgenhumor entwickelt. Die sagen: Also, wenn ein Beschuss erfolgt, dann geht das alles über uns hinweg, weil wir so nah an der Grenze sind. Klar, man erlebt im Gaza-Streifen im Moment schon eine Tragödie. Aber ansonsten ist es ein Land, in dem Menschen ihren Alltag leben und auch in Frieden leben.
DOMRADIO.DE: Welcher Ort auf der Reise hat Sie am meisten beeindruckt?
Alter: Überraschenderweise nicht das, was man vielleicht erwarten würde: die Grabeskirche oder die Geburtsgrotte in Bethlehem. Auch da war ich natürlich. Aber ehrlich gesagt hat mich dort der Rummel ein wenig abgeschreckt. Es ist touristisch auch sehr überlaufen.
Was mich persönlich sehr berührt hat, ist der kleine Ort Bethsaida am See Genezareth, der kaum von Touristen besucht wird, weil er heute ein bisschen abseits liegt. Der Wasserspiegel ist gesunken, es gibt kein Kassenhäuschen, keinen Parkplatz dort. Es sind einfach nur ein paar Fischerhäuser ausgegraben worden, die man sehr gut als diesen Ort identifizieren kann. Das ist der Ort, wo die ersten Jünger berufen wurden. Wenn man dort in der Stille vor so einem Fischerhaus sitzt und auf den See schaut, ist das sehr beeindruckend.
Zumal ich in diesem Jahr mein silbernes Priesterjubiläum feiern kann. Da kommt die Frage nochmal hoch: Wie war es eigentlich bei dir mit der Berufung? Und das hat mich sehr berührt. Das war für mich mein persönliches Highlight.
DOMRADIO.DE: Ist es eigentlich nochmal anders, wenn man da als Priester hinkommt?
Alter: Ich merke das jetzt vor allem im Nachhinein. Es war meine erste Reise nach Israel. Aber seit ich an diesen Stätten war, habe ich bei jeder Schriftlesung eine geographische Vorstellung und gehe sofort mit den Gedanken an den Ort, an dem ich auf dieser Reise war. Das illustriert nochmal das Gehörte sehr. Das hat mich verändert. Ebenso die Intensität. Die Orte sprechen heute auch noch zu uns auf unterschiedliche Weise. Das ist schon sehr beeindruckend.
DOMRADIO.DE: Sie waren mit dem Fahrrad unterwegs und nicht auf den ausgetretenen Touristenpfaden. Kommt man denn auch anders mit den Leuten ins Gespräch?
Alter: Ja, selbstverständlich. Wenn man sich in einer Gruppe bewegt, in einer Reisegruppe oder im Bus, dann ist man immer auch in dieser Gruppe orientiert. Als Alleinreisender wird man viel leichter angesprochen, eingeladen, ist mittendrin.
Es gab viele schöne alltägliche Begegnungen, interessanterweise vor allem in den Palästinenser-Gebieten. Die Palästinenser haben sehr großes Interesse. Erst mal kommen da relativ wenig Touristen hin und wenn welche kommen, haben sie schon Interesse, mit ihnen in Kontakt zu kommen und zu zeigen, wie sie leben und wollen, dass man ein realistisches Bild mitnimmt. Das habe ich es eigentlich am intensivsten erlebt. Ich habe in einem Dorf angehalten und sofort ist jemand auf mich zugekommen, hat mir einen Kaffee gereicht und angefangen zu erzählen.
DOMRADIO.DE: Können Sie so eine Geschichte herausgreifen, eine Begegnung die Sie noch bewegt?
Alter: In den Palästinensergebieten wird ziemlich viel auf der offenen Straße gelebt und agiert. Zum Beispiel auch das, was wir in unserem Kulturkreis kaum mehr kennen, das Schlachten von Tieren. Ich bin gerade in ein Dorf gekommen, wo ein Rind geschlachtet wurde. Da muss man sich schon ein bisschen dran gewöhnen. Aber so bekommen wir unser Fleisch.
Ein kleiner Junge sah, dass ich doch etwas irritiert war, als ich beim Schlachten hinschaute. Er kam mit einem Schokoladenriegel auf mich zu, gab mir den und es schien mir, als wollte er mich damit trösten. Wir sprachen zwar nicht dieselbe Sprache, aber es entstand sofort eine herzliche Bindung. Da bin ich plötzlich über den Vater mit der Familie, dem Metzger und dann mit dem halben Dorf ins Gespräch und in Kontakt gekommen. Das ist ein ganz kleines Beispiel, eine Alltagserfahrung. Ich bin vom Rad gestiegen und sofort war ich mittendrin.
DOMRADIO.DE: Es ist gesellschaftlich eine andere Welt. Die Menschen leben in den Palästinensergebieten zum großen Teil in großer Armut, auf der anderen Seite ist das hochtechnologisierte Israel. Wie kommt man denn als Alleinreisender mit dem Fahrrad über die Grenze? Wie funktioniert das?
Alter: Da hatte ich großes Glück. Weil es den Konflikt im Gazastreifen gibt, wird es an den anderen Checkpoints sehr liberal gehandhabt. Ich bin überall mit einem Blick in den Pass durchgewunken worden. Das war für mich nicht problematisch. Es ist natürlich anders für Palästinenser, die aus beruflichen Gründen häufiger wechseln müssen. Die erleben das immer noch als Schikane. Aber das war der unkomplizierteste Teil für mich.
DOMRADIO.DE: Das heißt, auch Grenzmauern waren kein Problem?
Alter: Sie sind natürlich präsent. Man sieht Stacheldrähte oder Mauern. Man muss, um nach Betlehem zu kommen, fast einmal um den Ort herumfahren. Das ist alles schon kompliziert und aufwendig. Aber es war nicht so, dass es mich in meiner Reise behindert hätte.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.