DOMRADIO.DE: Viele der Entwicklungen unserer Gesellschaft werden kontrovers diskutiert. Paare und Familien, Kinder, Alte, Flüchtlinge und Eliten stehen im Fokus Ihres Debattenbuches: „WIR. Die Zivilgesellschaft von morgen“. Wer ist denn eigentlich mit "Wir" gemeint?
Pfarrer Dr. Wolfgang Picken (Leitender Pfarrer im Seelsorgebereich Bad Godesberg): Das "Wir", das das Buch anspricht, ist eigentlich ein Blick auf alles, was gemeinschaftlich in einer Gesellschaft entworfen werden kann. Dabei geht es ganz besonders darum, dass das Buch darauf hinweisen möchte, dass wir ohne gute, zuverlässige und nachhaltige Bindungen von Menschen untereinander in einer Gesellschaft nicht überleben können. Das ist kein Konkurrenzentwurf zur Individualisierung – man muss sicherlich heute immer auch Rücksicht darauf nehmen, dass der Mensch auch für sich selbst leben will. Aber das allein wird als Gesellschaftsmodell nicht aufgehen und führt zur Überlastung des Staates und am Ende auch zum Kollaps unserer Systeme.
DOMRADIO.DE: Die gesellschaftlichen Entwicklungen bis hin zum Populismus machen vielen Menschen Sorgen. Inwieweit gehen Sie in ihrem Buch auf diese Problematik ein?
Picken: In dem Moment – das macht das Buch deutlich –, wo wir die eigentlichen Probleme nicht beim Namen nennen, können wir keine kreativen und packenden Lösungen finden. Wir tabuisieren heute ganz viele Probleme, die wir haben. Und in dem Moment entsteht ein großer Problemstau und das ist der Punkt, an dem Populismus aufsetzen kann. Wenn es dieses Tabu, dieses Vakuum gibt, dann kann man die Leute mit allen möglichen törichten Gedanken irritieren und vor allen Dingen kann man dann Angst verbreiten – das ist ein entscheidendes Moment für den Populismus. Und deshalb ist es nötig, eine Debatte darüber auszulösen, in welchem Zustand wir uns befinden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
DOMRADIO.DE: Was sind denn noch konkrete Probleme, die wir als Gesellschaft angehen müssen?
Picken: Ich glaube, eines der großen Probleme, das gegenwärtig viel diskutiert wird, ist die Frage: Wie versorgen wir Alte und Pflegende? Das, was darüber in der politischen Debatte präsent ist, ist bei weitem geringer, als das, was wir wirklich als Problem in der Praxis wahrnehmen und sehen. Die Ministerien und der Bundesminister sprechen davon, dass wir hier auf eine große Krise zulaufen. Wir laufen nicht auf sie zu, wir befinden uns mittendrin. Mit entsprechenden Folgen und Konsequenzen für die, die auf Pflege angewiesen sind: Sowohl die Kranken und Sterbenden, denen nicht das zukommt, was sie für ihr würdiges Leben und Kranksein benötigen, aber auch für die sie begleitenden Angehörigen, die vielfach alleine dastehen.
Diesen Prozess beobachten wir seit langem. Und das, was wir bei den alten Menschen sehen, stellen wir jetzt auch schon in eklatanter Weise bei Kindern fest. Wir verlagern die Erziehung in Kindertagesstätten in einem Umfang, in dem wir gar nicht so viel Qualität und Personal bieten können, um sie dort entsprechend aufzufangen und so zu begleiten, dass sie einen guten Weg in ihr Leben finden. Viele Kinder reagieren sehr empfindlich auf diese Veränderungen. Wir können das bei uns in unseren Gemeinden sehr gut beobachten. Wir haben ja früher nur Kindergärten für unter Dreijährige gehabt, jetzt haben wir Kindergärten für alle Altersgruppen ab einem halben Jahr. Und inzwischen stellen wir fest, dass fast 50 Prozent aller Kinder, die wir in unseren Kindertagesstätten haben, einen zusätzlichen Förderbedarf entwickeln. Das ist eine Entwicklung, über die wir nicht hinwegschauen dürfen.
DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie es denn ein: Wird unser System irgendwann zusammenbrechen?
Picken: Ich bin mir ganz sicher, dass es an manchen Stellen schon kollabiert ist. Wir haben nicht genügend familiären Zusammenhalt in unserer Gesellschaft – das ist eine sich weiterentwickelnde Tendenz. 70 Prozent aller Pflegeleistungen werden gegenwärtig in Familien erbracht. Die Sozialwissenschaft kann sehr gut nachweisen, dass wir innerhalb der nächsten 15 Jahre damit rechnen müssen, dass sich das auf die Hälfte reduziert. Wir sind aber jetzt schon finanziell und personell total überfordert.
Wie soll das weitergehen, wenn die Hälfte der Familie nicht mehr das leisten kann, was sie gegenwärtig noch leistet? Dann ist klar, dass wir das mit noch so viel Personal und Geld gar nicht auffangen können. Und von daher bewegen wir uns in eine Situation, die wir nicht einfach kurzfristig stoppen können, sondern hier sind langfristige Konzepte gefragt.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt in dieser Sache das "Wir"?
Picken: Ich habe das vor kurzem ein Begegnung mit einem Jugendlichen gehabt, dem ich die Frage gestellt habe: Was ist der Staat?" Er war fest davon überzeugt, der Staat sei die Addition von Individuen. Und genau das ist der Fehler. Es wird nie funktionieren, dass man nur als Einzelner dasteht und immer dann, wenn man einen anderen braucht, ruft man nach dem Staat. Das wird nicht gehen. Wir müssen das neu entdecken, was die katholische Soziallehre schon lange weiß: Wir Menschen sind Sozialwesen und brauchen feste, stabile Bindungen in unserem eigenen Leben. Die sind mindestens genauso wichtig wie eine Lebensversicherung. Sie brauchen Menschen, auf die sie sich in Krisensituationen verlassen können.
Wenn man das allein auf den Staat delegiert, werden wir scheitern. Also braucht es ein neues "Wir". Es braucht jeder das Bewusstsein, dass er verlässliche Partnerschaften und Bindungen für sein Leben braucht, um den Nöten und den Fragen seines Lebens hinreichend begegnen zu können. Da stellt sich die Frage: Welche Formen von "Wir" können wir heute neu entwickeln? Wir können ja Menschen, die heute individuell leben, nicht nachträglich in Familien eingliedern. Das wird nicht funktionieren. Also braucht es neue Formen von Zusammenhalt, von Organisation, von Solidarität. Da kommen dann die Parteien und die Kirchen und viele Organisationen ins Spiel, die heute vielleicht schon denken, dass sie Modelle für die Vergangenheit waren. Wenn sie sich öffnen, wenn sie vielfältiger werden, als sie es gegenwärtig sind, könnten sie vielleicht die Orte sein, in denen die Menschen, die ein verlässliches "Wir" brauchen, das miteinander finden können.
DOMRADIO.DE: Was kann man als "Wir", als Gemeinschaft vor Ort schaffen?
Picken: Man kann sehr viel erreichen, aber wir müssen genau hingucken. Es gibt diese Lüge der Machbarkeit, die besagt, der Staat kann alles organisieren und regeln, wie das viele unserer Ministerien auch nach außen hin vermitteln. Wir müssen Tabus beenden, genau hinschauen, wo sind die Nöte der Leute vor Ort, wo muss dringend etwas getan werden und was schafft der Staat nicht mehr. Und dann sehen Sie, es gibt Probleme, mit denen, die sich auf den letzten Weg machen, die krank und pflegebedürftig sind, die sterben. Wir stellen fest, dass viele Kinder auf ihrem Weg zusätzliche Zuwendung brauchen und der Staat sie ihnen schuldig bleibt. Wir stellen fest, dass Jugendliche oft alleine stehen. Wenn man anständig und wach in seinem Viertel lebt, weiß man, wo die Defizite sind. Und dann geht es darum, dass wir gemeinsam Ziele und Lösungen definieren, mit denen wir solchen Dingen begegnen können.
Jetzt ist es aber wichtig, dass man nicht als Teil separat bleibt. Wir müssen sehen, dass wir wirklich ein "Wir" zusammenstellen und konstruieren, das heißt, alle Menschen einladen, sich an diesen Lösungen zu beteiligen, um Separierung in der Gesellschaft zu überwinden. Auch für Kirche ist das ein deutliches Phänomen. Wir haben irgendein Problem, dann werben wir unsere Kirchenbesucher an, um uns in irgendwelchen ehrenamtlichen Funktionen zu helfen – der Blick muss sich weiten, damit wir sehen, dass es eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe vor Ort gibt.
Und die schöne Feststellung ist, das, wenn es Möglichkeiten gibt, die großen gesellschaftlichen Probleme vor der eigenen Haustür zu lösen, dass es ein Reiz für die Menschen vor Ort ist. Zum einen, weil sie die Erfolge und die Fortschritte sehen können, zum anderen, weil sie möglicherweise auch selbst einen Vorteil davon für das eigene mein Kind, für den eigenen jugendlichen, für den eignene älteren Verwandten haben. Das mobilisiert Kräfte vor Ort und schafft Solidarität und etwas, das zusammenführt. Wir brauchen Formen von Identifikation von gemeinsamen Zielen, dann kommen Menschen auch zusammen. Das wäre eine große Chance für Kirche, die ja regional und vor Ort aufgestellt ist, solche Moderatorenfunktionen zu übernehmen, Probleme zu definieren und dann alle Kräfte der Gesellschaft einzuladen, um gemeinsam dieses Problem zu lösen.
Das Interview führte Julia Reck.