DOMRADIO.DE: 30 Jahre ist Ihre Weihe nun her. Was ist Ihnen von diesem besonderen Tag am meisten in Erinnerung geblieben?
Dr. Wolfgang Picken (Stadtdechant von Bonn): Ich glaube, dass es den meisten ähnlich geht, wenn man unter Mitbrüdern spricht: Dieser Moment, in dem man sich bei der Liturgie auf den Boden legt und dann die Allerheiligenlitanei gesungen wird, das ist irgendwie ein ganz besonderer Moment.
Da hat sich die Kirche über Jahrhunderte wirklich einen liturgisch sehr intensiven Augenblick ausgedacht, der einen wirklich erfüllt, berührt, bewegt. Man muss mit Mühe versuchen, aufzustehen. Ich kann mich erinnern, dass mir fast schwindlig war vor lauter Konzentration und Andacht, aber auch Anspannung. Das ist, so glaube ich, der intensivste Moment, den ich in Erinnerung habe.
DOMRADIO.DE: Sie waren nach Ihrer Weihe Kaplan in Bensberg und in Bergisch Gladbach und danach dann 15 Jahre lang Pfarrer im Bonner Süden, bevor Sie als Stadtdechant ins Herz der Bundesstadt kamen. Wie blicken Sie heute auf diese 30 Jahre zurück?
Picken: Es sind sehr wechselhafte Jahre gewesen. Es gab ganz kontinuierliche Zeiten als Pfarrer von ganz Bad Godesberg, bevor ich nach Bonn kam. Vorher noch die Zeit der Promotion, die ich auch hier in Bonn an der politikwissenschaftlichen Fakultät durchgeführt habe. Davor die auch wahnsinnig aufregende Zeit in Bensberg, weil das damals eine große Pfarrei war. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen. Da waren wir noch zwei Kapläne in einer Gemeinde!
Das waren sehr interessante Stationen und es war vielseitig. Auch deshalb, weil ich eine unglaublich lebendige Kirche in den Orten erlebt habe, wo ich meinen Dienst habe verrichten können. Das ist in Zeiten des Umbruchs und der Krise – eigentlich ist in den 30 Jahren immer nur von Kirchenkrise die Rede gewesen – eine sehr besondere Erfahrung, auf die ich wirklich sehr, sehr dankbar schaue.
DOMRADIO.DE: Sie sagten gerade "wechselhaft". Gab es auch Tiefpunkte in dieser Zeit?
Picken: Weniger Tiefpunkte, von denen man vielleicht jetzt sprechen würde, als dass ich meine Entscheidung in Frage gestellt hätte. Aber es ist natürlich schon so, dass Sie immer wieder in Situationen, besonders in die Situationen von Menschen hineingenommen werden, die einem so nahe kommen – weil Seelsorge natürlich auch von Nähe lebt – dass Sie sich die auch selbst zu eigen machen und diese einen persönlich erschöpfen. Solche Momente hat es sicherlich immer wieder gegeben.
Aber dann auch irgendwie – im Nachhinein muss man das sagen – die Erfahrung, dass irgendetwas, irgendjemand, Gott selbst einem wieder auf die Beine geholfen, mit neuer Kraft erfüllt hat, sodass man seinen Weg fortsetzen konnte. Irgendwie bewegen wir uns vielleicht ein bisschen zeitlich versetzt zu den Wellen der Lebenslinie der Menschen, mit denen wir durch das Leben gehen.
DOMRADIO.DE: Sie haben eben schon das Wort Kirchenkrise in den Mund genommen. Priester sein ist ja angesichts dieser Kirchenkrise im Augenblick nicht der attraktivste Beruf. Die Weihezahlen sind in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen. Im Kölner Dom werden in diesem Jahr immerhin noch sechs Männer zu Priestern geweiht. Sie waren damals über 20. Wenn Sie jetzt noch mal 30 Jahre jünger wären, würden Sie sich wieder zum Priester weihen lassen?
Picken: Ich habe während dieser ganzen Zeit diese Entscheidung nie bereut und ich würde sie sofort wiederholen, weil ich es einfach als einen der schönsten Berufe, eine der schönsten Berufungen ansehe. Sie gibt uns die Möglichkeit, nahe an der Situation der Menschen zu sein. Sie macht es zu der eigenen Aufgabe, von dem Zeugnis zu geben, wovon man innerlich überzeugt und auch selbst getragen ist.
Ich sage gerne: Wir haben die große Freude, als Priester Spurenleser Gottes zu sein. Man sieht immer wieder in seiner Nähe und Umgebung –dadurch, dass wir als Seelsorger und Priester mit den Menschen auf dem Weg sind– dass dieser Satz "Ich bin bei euch alle Tage eures Lebens" nicht nur religiöse Vertröstung oder irgendeine fromme Sülze ist. Sondern das realisiert und konkretisiert sich hundertfach im Leben eines Priesters, wenn wir mit wachen Augen unseren Dienst versehen. Das ist eigentlich das größte Geschenk und die schönste Bestätigung. Und weil es so ist, würde ich an keiner anderen Stelle stehen wollen.
DOMRADIO.DE: Sie sagten gerade, Sie seien sehr nah an den Problemen der Menschen. Zurzeit gibt es im Erzbistum Köln dieses Problem, dass aus Rom keine Entscheidung kommt, wie es nun weitergeht. Viele Menschen wenden sich von der Kirche ab. Wie gehen Sie denn als Priester damit um?
Picken: Man würde sich wünschen, weil Glaube und Kirche ja auch meine eigene Leidenschaft sind, dass Menschen diese Leidenschaft teilen. Dann tut es weh, wenn sich aus den Gemeinden oder aus der Distanz Leute entfernen. Das betrifft ja auch persönliche, nähere Lebensumfelder, Familie, Freundeskreis. Das lässt einen nicht kalt. Auf der anderen Seite sieht man, dass wir an vielen Stellen mit bestimmten Bewegungen nicht vorwärts kommen. Das ist der Tribut, der dafür bezahlt wird. Und man fühlt sich ein Stück ohnmächtig gegenüber solchen Prozessen.
Das könnte man fast nicht aushalten, wäre da nicht auch das andere. Also würde man nicht auch in der gegenwärtigen säkularen Zeit und in einer Phase der Krise merken, wie viele eigentlich auf der Suche sind. Wenn wir die Situation der Schöpfung nehmen oder Frieden oder die Frage: Wie gehen wir sozial miteinander um? Da ist die Botschaft Jesu hochaktuell. Wenn man die Sehnsucht der Menschen nach Gott, nach etwas Größerem auch mal näher beobachtet, dann zeigt sich auch, dass ein Gott der Person ist, der nahe sein will, der Sakramente ermöglicht, der, was ich nach wie vor das Faszinierendste finde, in der Eucharistie eins sein will mit dem Menschen, also so viel Nähe herstellen, dass er sogar physisch mit uns eins wird, das ist, wonach viele genau suchen. Das ist eine Bestätigung dafür. Und es gibt nicht nur die Bewegung weg.
Ich habe an den Stellen, an denen ich tätig war, auch viel Aufbruch, viel Bewegung hin zum Glauben, viel innere Überzeugung erleben dürfen. Was ich damit sagen will: Es gibt in diesen 30 Jahren eine große Gleichzeitigkeit von Krisen, Symptomen und von Aufbrüchen. Und Gott sei Dank, vielleicht kann ich das sagen: Für mich selber hat sich das in eine gute Balance gebracht in meinem priesterlichen Leben, sodass neben den Einschlägen und den Dingen, die man nur schwer ertragen kann, es auch die vielen Höhepunkte und Momente des Aufbruchs und der Glaubensfreude gegeben hat.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.