DOMRADIO.DE: Was werfen Sie der Bonner Regierungskoalition vor?
Wolfgang Picken (Stadtdechant von Bonn und promovierter Politikwissenschaftler): Die Stadt Bonn will freiwillige Leistungen wie offene Ganztagsschulen oder Integrationshilfen für Kinder mit Behinderungen kürzen. Das sind natürlich Dinge, auf die sie in der Haushaltspolitik Einfluss hat. Währenddessen kürzt sie an anderen Stellen nicht.
Da trifft es jetzt die Kinder und Jugendlichen, die Zukunft einer Stadt. Hinzukommt, dass durch die Inflation, durch den Krieg, die Kosten gestiegen sind. Das heißt, selbst wenn man jetzt noch zusätzlich etwas drauflegen würde, gleicht man damit größtenteils nur die zusätzlichen Kosten aus. Aber selbst das unterbleibt.
Die freien Träger wie Kirchen oder die Arbeiterwohlfahrt, viele Institutionen bleiben auf den zusätzlichen Kosten hängen. Und das wird dazu führen, dass die Angebote für die Kinder und Jugendlichen eher zurückgenommen werden als ausgebaut. Das ist eine wirklich falsche Weichenstellung der Politik und eine falsche Priorisierung.
DOMRADIO.DE: Welche Folgen hätte das für die Zukunft dieser Kinder und für die Zukunft der Stadt Bonn?
Picken: Wir wissen noch nicht genau, in welchen Bereichen diese Sparmaßnahmen greifen werden. Aber es ist sehr deutlich, dass gerade bei den freiwilligen Leistungen die benachteiligten Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Diejenigen, die eigentlich ohnehin schon abgehängt werden in vielen Prozessen, werden das noch mal ein weiteres Mal spüren.
In einem Bericht der letzten Tage steht, dass sich die Kriminalitätsstatistik bei Jugendlichen bundesweit deutlich negativ verändert, also Gewalt an den Schulen und unter Jugendlichen zunimmt. Wir müssten eigentlich dringend zusätzlich in die Jugend investieren, damit Intervention und Prävention auch an den Schulen gut gelingen kann.
Eine nachhaltige Politik, und das ist das, was sich hier in Bonn insbesondere die rot-rot-grüne Koalition auf die Fahnen geschrieben hat, kann sich nicht allein auf Fahrrad und Verkehrspolitik konzentrieren. Die Ressource Mensch, die jungen Leute, das ist das, worauf es mindestens genauso ankommt. Die dürfen nicht auf der Strecke bleiben.
DOMRADIO.DE: Heißt das, dass die Sparmaßnahmen das Gegenteil von dem bewirken, was die Bonner Politik eigentlich erreichen möchte?
Picken: Meinem Verständnis nach ist Nachhaltigkeit wichtig. Ich finde wichtig, dass es hier Fahrradstraßen gibt. Wir haben Dienstag den Beschluss gehört, dass der Rat die B9, das ist die Bonner Hauptstraße, mit Fahrradwegen ausstatten will, obwohl zwei Parallelstraßen schon entsprechend ausgestattet sind.
Das kostet die Stadt in Zeiten knapper Mittel rund 1,4 Millionen Euro. Wenn wir alleine einmal die Sozialförderung für Kinder und Jugendlichen nehmen würden, die gegenwärtig auf den Plan stehen, sind wir bei 1,2 Millionen Euro.
Die 1,2 Millionen Euro werden nicht in die jungen Menschen investiert, aber eine Fahrradstraße, die in diesem Fall vielleicht wünschenswert aber nicht wirklich nötig ist. Das sind völlig falsche Gewichtungen der Politik zulasten der Menschen und der zukünftigen Generationen.
Ich denke man muss, und da sind wir uns auch als Sozialverbände und unter den Kirchen einig, deutlich Signale setzen und sagen, dass das so nicht gehen kann.
DOMRADIO.DE: Wieso befürchten Sie sogar einen massiven Schaden der sozialen Infrastruktur in Bonn?
Picken: Wenn die freien Träger auf immer mehr Kosten hängen bleiben dann ist klar, dass viele dieser kleinen und auch größeren Träger, auch wir als Kirchen, in die Knie gehen. Denn wir können das in dieser Höhe nicht ausgleichen.
Wir werden bestehende Projekte und Institutionen zurückfahren müssen. Außerdem müssen wir feststellen, dass die Notwendigkeit von Jugendhilfe zunimmt aufgrund der Auswirkungen von Corona und der zunehmenden Gewalt unter Jugendlichen.
Wir müssten Maßnahmen in diesen Bereichen eigentlich erweitern, das können wir bei Sparprogrammen erst recht nicht tun. Wir bleiben hinter den Notwendigkeiten weit zurück. Die Leidtragenden sind die Kinder und Jugendlichen, die Zukunft unserer Stadt.
DOMRADIO.DE: Was fordern Sie von den Verantwortlichen?
Picken: Geld kann man ja immer nur einmal ausgeben. Wir müssen uns in solchen Situationen wirklich auf das Notwendige begrenzen und nicht das Wünschenswerte tun. Man darf Politik jetzt nicht ideologisieren, indem man Nachhaltigkeit beispielsweise nur auf das Thema der Verkehrsführung reduziert.
Nachhaltigkeit bedeutet auch, das ist ganz wichtig, in die Ressource Mensch und das soziale Miteinander einer Stadt zu investieren. Es tut der Stadt nicht gut, wenn wir über diese Weichenstellungen zu Polarisierungen kommen und möglicherweise Jugendlichen das schuldig bleiben, was sie für ihre Entwicklung dringend benötigen.
Das Interview führte Dagmar Peters.
Information der Redaktion: Hier finden Sie die Antwort der Grünen Bonner Ratsfraktion auf die Vorwürfe des Bonner Stadtdechanten, Wolfgang Picken, vom 12.05.2023