Politikwissenschaftler beleuchtet Selenskyjs Papstbesuch

Ein Drahtseilakt

Kürzlich war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Besuch bei Papst Franziskus. Die Beziehungen zwischen den beiden Staatsoberhäuptern war nicht immer die beste. Politikwissenschaftler Ralph Rotte erklärt, wieso.

Autor/in:
Clemens Sarholz
Staatspräsident der Ukraine, zu Besuch bei Papst Franziskus am 11. Oktober 2024 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Staatspräsident der Ukraine, zu Besuch bei Papst Franziskus am 11. Oktober 2024 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Stichpunkt Ukraine. Wofür steht der Vatikan eigentlich? 

Prof. Dr. Ralph Rotte / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Prof. Dr. Ralph Rotte / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Prof. Ralph Rotte (Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen, RWTH Aachen): Dafür, dass man versuchen muss, den Konflikt zu beenden und humanitär das Schlimmste zu vermeiden. Man kann nicht sagen, wie die Einschätzung des Vatikans in Bezug auf die Rechtmäßigkeit aussieht. 

Dem Vatikan geht es wahrscheinlich darum, den Krieg und das Leiden irgendwie zu beenden. Aber auch innerhalb des Vatikans gibt es unterschiedliche Auffassungen. 

Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin hat schon mehrmals gesagt, dass die Ukraine sich wehren darf und sie unterstützt gehört. Der Papst ist da ein bisschen schwieriger.

Er legt in gewisser Weise auch Verständnis für Russland an den Tag und ist skeptisch gegenüber der ukrainischen Führung und der westlichen Unterstützung. Die internen Diskussionen im Vatikan sind nicht völlig homogen.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie den Besuch von Selenskyj verfolgt?

Rotte: Ich finde, er war verhältnismäßig nichtssagend. Die Erwartungen waren aber auch nicht besonders hoch. Die Beziehungen waren in der Vergangenheit nicht die allerbesten. Auch wegen ein paar schwierigen Äußerungen des Papstes. Stichwort: "Weiße Flagge". 

Ich glaube, Herr Selenskyj ist da auch nicht mit großen Erwartungen und Hoffnungen reingegangen. Vom Vatikan kann man nur wenig erwarten. 

Selenskyj hält an den Maximalforderungen fest und will die Russen komplett rauswerfen, der Vatikan sagt, man müsse ins Verhandeln kommen. Dem Vatikan kommt es, glaube ich, nicht unbedingt auf territoriale Fragen an. Hauptsache, das Sterben und Leiden wird beendet.

DOMRADIO.DE: Woran machen Sie fest, dass Papst Franziskus Verständnis für Russland hat? 

Ralph Rotte

"Dazu hat er einen gewissen amerikakritischen Reflex."

Rotte: Er hat immer angedeutet, dass er ein gewisses Verständnis für Russland hat und dass sich Russland durch die NATO-Expansion bedroht fühlt. Dazu hat er einen gewissen amerikakritischen Reflex. Das er skeptischer auf die Yankees blickt als wir, hat unter anderem mit seiner Herkunft und seiner Prägung zu tun. 

Seine theologische und politische Philosophie hat einen starken antikapitalistischen Touch. Dementsprechend steht er den Hauptvertretern des Kapitalismus skeptisch gegenüber. 

Die humanitäre Perspektive lässt zudem, plump ausgedrückt, das Argument zu, dass Selenskyj Putin ein paar Territorien abtreten soll, damit endlich mal Schluss ist mit dem Konflikt. Wenn man diesen humanitären Aspekt in den Mittelpunkt stellt, versteht man vielleicht die Skepsis gegenüber einer solchen Vehemenz von Herrn Selenskyj, mit der er diesen Kampf führt. 

Diese Sichtweise führt zu gut gemeinten, aber unbedachten Äußerungen. Und durch die ist das Verhältnis zwischen dem Vatikan und Selenskyj nicht immer das beste.

DOMRADIO.DE: Selenskyj hat sich beim Papst für seine Hilfen bedankt und darum gebeten, dass es weitere Unterstützung geben wird. Zeigt sich da ein Umdenken? 

Rotte: Ich glaube nicht, dass das ein Umdenken ist. Das ist Diplomatie. Ein paar Sachen funktionieren ja ganz gut. Wenn Vertreter des Heiligen Stuhls zu einem Gefangenenaustausch beitragen, ist das durchaus positiv zu bewerten und brauchbar in so einem Konflikt. 

Das bedeutet aber keinen Wandel hinsichtlich der strategischen oder politischen Ziele. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Papst Herrn Selenskyj von seiner Herangehensweise überzeugt hat. 

Ralph Rotte

"Was ich mir aber vorstellen kann, ist, dass der ukrainische Präsident schonmal an die Zukunft denkt."

DOMRADIO.DE: Was können Sie sich vorstellen?

Rotte: Dass der ukrainische Präsident schonmal an die Zukunft denkt. Wenn sein Siegesplan im Westen nicht ankommt, Trump an die Macht kommt und die Unterstützung zurückschraubt, die Europäer diesen Krieg auch nicht stemmen können und irgendwann keine Ressourcen mehr in der Ukraine ankommen, wird er vielleicht früher oder später in den sauren Apfel beißen müssen. 

Die Russen haben sich auf einen langen Abnutzungskrieg eingestellt. Vielleicht muss er dann ins Friedenslager wechseln. Bei solchen Verhandlungen braucht er Vermittler. Da steht der Heilige Stuhl zur Verfügung und den sollte man sich dann auch warm halten. Vielleicht braucht er ihn, vielleicht ist das die Vorbereitung auf schlechte Zeiten.

Wolodymyr Selenskyj (m.), Staatspräsident der Ukraine, im Vatikan / © Andrew Medichini (dpa)
Wolodymyr Selenskyj (m.), Staatspräsident der Ukraine, im Vatikan / © Andrew Medichini ( dpa )

DOMRADIO.DE: Also ist der Vatikan so was wie eine humanistische Pufferzone? 

Rotte: So ungefähr. Dieser humanitäre Touch und diese Neutralität, die durchaus problematisch sein kann, ist das, was eine päpstliche Vermittlung auch für für die Russen akzeptabel machen könnte. Ich denke aber nicht, dass es Veränderungen in der Grundhaltung gibt, aber der ukrainische Präsident geht da einigermaßen pragmatisch ran.

DOMRADIO.DE: Hat der Vatikan auch sicherheitspolitisch Einfluss? 

Rotte: Nur über diese immer wie eine Monstranz vor sich her getragene Neutralität. Sie macht sein Wirken für alle Seiten akzeptabel. Er kann nur mit den Leuten reden, diplomatisches Geschick anwenden und moderieren.

DOMRADIO.DE: Ist der Heilige Stuhl wirklich neutral? 

Rotte: Schwierig. Es gibt Fälle, in denen man gar nicht neutral sein kann. Immer dann, wenn es einen klaren Aggressor gibt und ein klares Opfer, muss man einen Spagat hinlegen. 

Ralph Rotte

"Das wird von einigen als Heuchelei abgetan."

Auf der einen Seite ist es völlig klar, wer hier der Rechtsbrecher ist, alle Regeln über Bord schmeißt und versucht, seine Ziele mit Gewalt zu durchzusetzen. Das ist abzulehnen. Wenn auf der anderen Seite aber das oberste Ziel ist, Menschenleben zu retten, muss man praktisch damit umgehen. Das führt dann zu einem gewissen Schlingerkurs. 

Und wegen dieser Widersprüchlichkeiten ist alles, was der Heilige Stuhl macht, von irgendeiner Seite immer kritikwürdig. Der Vatikan bemüht sich um diese Neutralität wirklich und er versucht auch keine Stellung zu beziehen, aber das wird von einigen eben auch als Heuchelei abgetan. 

DOMRADIO.DE: Kardinal Matteo Zuppi ist gerade in Moskau und soll unter anderem über die Rückführung verschleppter ukrainischer Kinder verhandeln. Kiew spricht von 20.000 Kindern. Halten Sie das für realistisch, dass der Vatikan sie zurückbringen kann? 

Rotte: Ich halte es nicht für völlig abwegig, dass einige Kinder wieder zurückkommen. Ich glaube aber nicht, dass es tausende sein werden. Das würde dem russischen Narrativ völlig widersprechen. Für Putin sind das ja russische Kinder, die man nicht einfach zurückgeben und aus ihren neuen Familien herausreißen kann.

DOMRADIO.DE: Würden Sie sich mehr Farbe vom Vatikan wünschen?

Rotte: Ich glaube schon, dass der Vatikan manchmal deutlicher Flagge zeigen sollte. Ich verstehe aber auch, warum er sich davor scheut. Das könnte natürlich die humanitäre Mission gefährden. Wenn man sich hinstellt und die Russen als Aggressoren betitelt, sagt, dass die Ukraine völlig Recht hat und dass sie sich mit allen Mitteln wehren darf, dann würde das Missionen, wie etwa den Gefangenenaustausch oder den Versuch, Kinder zurück in ihre Familien zu bringen, aussichtslos machen. Dann wäre der Vatikan kein akzeptabler Anpsprechpartner mehr. 

Gleichzeitig habe ich persönlich damit ein ungutes Gefühl, weil Schweigen auch immer den Aggressor bestärkt. Das ist ein Argument, dass dagegen spricht und das ich sehr gut nachvollziehen kann. 

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Vatikan erläutert Papstwort zur "Weißen Flagge" für die Ukraine

Der Vatikan hat versucht, umstrittene Äußerungen des Papstes zu einem Verhandlungsfrieden im russisch-ukrainischen Krieg einzuordnen. Das zum Heiligen Stuhl gehörende Online-Portal Vatican News verbreitete in mehreren Sprachen, darunter auch auf Ukrainisch, einen Bericht über eine entsprechende Erklärung von Vatikansprecher Matteo Bruni.

Darin heißt es, Bruni habe auf Nachfrage gegenüber Journalisten präzisiert, dass der Papst mit seinen jüngst veröffentlichten Worten zur Ukraine "vor allem zu einem Waffenstillstand aufrufen und den Mut zu Verhandlungen wiederbeleben wollte".

Papst Franziskus / © Andrew Medichini/AP (dpa)
Papst Franziskus / © Andrew Medichini/AP ( dpa )
Quelle:
DR