DOMRADIO.DE: Was bedeutet Imamoglus Sieg für die politische Gemengelage in der Türkei?
Dr. Felix Schmidt (Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul): Aus meiner Sicht handelt es sich tatsächlich um eine Zäsur. Denn die AKP hat zum ersten Mal eine empfindliche Niederlage erlitten. Nachdem sie die Wahl am 31. März annuliert hatte, hatte sie gehofft, dass es zu einem Wechsel kommt und doch wieder die AKP gewinnt. Aber nun hat Imamoglu fast einen überwältigenden Sieg errungen - mit sehr viel mehr Abstand als noch bei der ersten Wahl. Von daher hat sich hier das politische Klima massiv verändert.
DOMRADIO.DE: Imamoglu hatte ja schon einmal gewonnen. Die Wahl musste auf Geheiß von ganz oben wiederholt werden. Jetzt also der klare Sieg. Man hätte ja denken können, Erdoğans Getreue schrecken nicht vor Manipulation zurück. Hat es Sie überrascht, dass Yildirim schnell seine Niederlage eingestanden hat?
Schmidt: Es hatte sich schon abgezeichnet: Die Prognosen waren alle sehr stark zugunsten Imamoglus ausgefallen. Die Regierungspartei - das spürte man schon im Wahlkampf - war ziemlich verzagt. Ich glaube, auch die Zurückhaltung des Staatspräsidenten Erdoğan dieses Mal im Wahlkampf deutet darauf hin, dass man mit einer Niederlage gerechnet hat. Der Sieg ist so hoch, dass man das auch nicht mehr drehen kann, etwa durch irgendwelche Anfechtungen wie beim ersten Mal. Ich glaube, das bleibt bestehen. Und sowohl Yildirim als auch Erdogan haben ja beide schon die Niederlage anerkannt und dem Gewinner gratuliert.
DOMRADIO.DE: Erdoğan hatte vorher sehr deutlich gemacht, wie wichtig ihm ein AKP-Bürgermeister in der Metropole Istanbul sei. Was bedeutet nun diese zweite Niederlage für den Präsidenten?
Schmidt: Das ist schon dramatisch. Als er selbst seine politische Karriere begann und Bürgermeister in Istanbul wurde, hatte er schon gesagt: "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei". Ob es diesmal auch so sein wird, muss man abwarten. Aber die Niederlage ist schon ein schwerer Schock für ihn. Damit hat er nicht nur die politische Macht verloren, sondern auch den Zugang zu massiven Pfründen, die Istanbul bietet.
DOMRADIO.DE: Für was steht Imamoglu? Welche Wählerschaft konnte er auf sich vereinen?
Schmidt: Ich denke, der Sieg liegt vor allem daran, dass es ihm auch gelang, sehr konservative Wähler für sich zu gewinnen. Er selber ist ein gläubiger Muslim, geht in die Moschee, nimmt am Fasten teil. Er kommt aus der Schwarzmeerküste, einer eher konservativen Region. Damit hat er zum ersten Mal auch Leute angesprochen, die nicht die klassische Klientel der säkularen, kemalistischen Wähler der CHP sind. Die hat er natürlich auch gewonnen. Aber die neuen Wählerschichten liegen eher im konservativen Bereich.
DOMRADIO.DE: Welche Herausforderungen kommen auf Imamoglu jetzt zu?
Schmidt: Es wird eine schwierige Zeit für ihn. Und ich glaube, Erdoğan wird auch viel tun, um ihm Steine in den Weg zu legen. Die Schwierigkeit liegt zuerst einmal darin, dass die AKP weiterhin die Mehrheit im Stadtrat haben wird. Aber er hat schon in seinen ersten Ansprachen sehr deutlich gemacht, dass er für alle Istanbuler gewählt wurde. Und er möchte auch die, die ihn nicht gewählt haben, umarmen und miteinbeziehen. Von daher hat er, glaube ich, die richtige Strategie gewählt, um diesen Widerständen jetzt schon etwas entgegenzusetzen.
DOMRADIO.DE: Hat er womöglich das Zeug zum Wendepunkt? Wird er die Opposition nachhaltig stärken?
Schmidt: Sehr häufig hört man heute, dies sei der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan. Das kann man natürlich leicht sagen, weil man keinen Zeitplan damit verbindet. Und irgendwann ist sicherlich die Zeit Erdoğans zu Ende. Aber ich denke, das wird jetzt nicht unmittelbar der Fall sein.
Das Interview führte Dagmar Peters.