Politologe Püttmann analysiert die Bundestagswahl

"Willkommen in der Wirklichkeit"

Nach dem Wahlkampf ist vor der Regierungsbildung. Wie weit die Erwartungen der Parteien von der Realität nach der Wahl abweichen, legt der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann in einem Gastkommentar dar.

Autor/in:
Andreas Püttmann
Regierungsviertel und Bundestag in Berlin / © mama_mia (shutterstock)

In Wahlen zerschellen Wunschwelten an der Wirklichkeit. Für überhitzte Parteisoldaten in der Naherwartung eines Triumphs ihrer Idole kann sogar ein Sieg zur kalten Dusche werden. Jene Unionsanhänger und -funktionäre, die Friedrich Merz schon bei seinen ersten zwei vergeblichen Anläufen zum CDU-Vorsitz unterstützten, versprachen sich und anderen damals von ihrem "Merzias" einen Auszug aus den Wüstenjahren des Merkelismus ins gelobte Land einer Unions-Dominanz bei "40 Prozent", samt Schrumpfung ("Halbierung") der AfD und Rückkehr der Koalitionsoption Schwarzgelb gegen das verhasste "Rotgrün".

Dr. Andreas Püttmann: Politologe und Publizist.   (privat)
Dr. Andreas Püttmann: Politologe und Publizist. / ( privat )

Nachdem Allensbach im November 37 Prozent für CDU/CSU gemessen hatte, sahen einige wie Jens Spahn sogar die Möglichkeit einer "absoluten Mehrheit", wenn mehrere kleine Parteien an der Fünfprozenthürde scheiterten. In Social Media berauschten sich Unions-Influencer an solchen Szenarien. Skeptiker von Merz' Kanzlerkandidatur und seinem mit Generalsekretär Linnemann eingeschlagenen stramm konservativen und wirtschaftsliberalen Kurs wurden als Miesmacher abgetan oder gar als Parteischädlinge verschrien.

Und nun: Das historisch zweitschlechteste Unionsergebnis, noch viereinhalb Prozent schlechter als Merkels schlechtestes von 2017, und die AfD hat sich nahezu verdoppelt statt halbiert. Die Union selbst gab noch fast eine Million Wähler an sie ab. Und das wohlgemerkt aus einer gegenüber Armin Laschets missratenem Wahlkampf 2021, an dem Merz als Quasi-Vizekandidat bereits beteiligt war, weit komfortableren Ausgangslage heraus: jener der stärksten Oppositionskraft gegen eine höchst unbeliebte Regierung. Während laut INSA-Potenzialanalyse 46 Prozent der Bundesbürger sich im Februar grundsätzlich vorstellen konnten, CDU/CSU zu wählen, nahmen das konkrete personelle und programmatische Angebot am Wahltag nur 28,5 Prozent wahr.

Niederlage für Merz

Schon gemessen an seinen eigenen Ansprüchen ist dies eine Niederlage für Merz und seinen Kurs. Das muss Konsequenzen für die künftige Aufstellung der Union haben. Die Strategie nicht aller, aber doch etlicher in der Union, in Themenpriorisierung und rhetorischem Stil "das Stinktier zu überstinken", ist gescheitert. Man bestätigte damit indirekt AfD-Wähler, statt ihrem Furor mit Widerlegungen und differenzierteren Positionen entgegenzutreten und so zur christlich-liberalen und sozialen Mitte anschlussfähig zu bleiben. 

Das Lieblingsthema der Rechtsradikalen: kriminelle Ausländer, in der Spätphase des Wahlkampfs zur alles überragenden Herausforderung hochzuziehen, war höchstwahrscheinlich kontraproduktiv. Es war nach den jüngsten Anschlägen zwar richtig, einen eigenen Plan zum Schutz vor solchen Taten vorzustellen. Dabei jedoch - ohne praktischen Nutzen – last minute im Bundestag "All in" zu spielen, erschütterte das Vertrauen in die Brandmauer zu den blau-braunen Republikverächtern und mobilisierte mehr das linke Lager als das eigene. 

Unerwarteter Aufschwung für Die Linke 

Die Partei Die Linke erlebte, terminlich nachvollziehbar, wesentlich deshalb ab Ende Januar noch einen unerwarteten Aufschwung. Merz lieferte ihr auf dem Silbertablett noch den "Antifaschismus" als Mobilisierungsthema. Polarisierung nützt letztlich immer den Rändern, nicht der Mitte. Parteien schneiden ja nicht einfach ein Stück vom Wählerkuchen ab (und ein größeres, wenn sie andere Angebote nachahmen), sondern man wirkt an der Gärung des Kuchens mit – in der Sprache des Grundgesetzes: "bei der politischen Willensbildung des Volkes" (Art. 21 (1)). 

Wer von Zuwanderern, von denen wir laut demografischer Expertise bis zu 400.000 netto pro Jahr brauchen, hauptsächlich als Terror- und Kriminalfällen spricht, der düngt den Nährboden völkischer Xenophobie, statt zur Versachlichung und Behebung tatsächlicher Probleme beizutragen. Dass SPD und Grüne im Februar nahezu unverändert schwach blieben, bedeutet nicht, dass sie von Merz' Crashkurs im Bundestag nicht auch profitieren konnten. Sie könnten dadurch, nicht zuletzt im moderaten kirchlichen Milieu, ein Stück weit kompensiert haben, was sie wegen der Polarisierung an Die Linke verloren.

Klientel der Blau-Braunen

Eigentlich verbindet man mit Konservativen (als die sich manche Christdemokraten inzwischen selbst bezeichnen) gerade keine Traumtänzerei, sondern bodenständigen, nüchternen Realismus. Doch die Zeiten konservativen "Maßhaltens" und demütiger Selbstdistanz scheinen vorbei zu sein. Zum enttäuschenden Wahlergebnis kann man ihnen nur zurufen: Willkommen in der Wirklichkeit! Dazu gehört auch: Das Gros der AfD-Wähler stellt nicht einfach nur enttäuschte Konservative, quasi ungezogenere Verwandte im Geiste, als welche der rechte Unionsflügel sie sich gern schönredet, weil er manche ihrer Kritiken teilt.

Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, beim Bundesparteitag iIn Riesa. / © Sebastian Kahnert (dpa)
Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, beim Bundesparteitag iIn Riesa. / © Sebastian Kahnert ( (Link ist extern)dpa )

In der Klientel der Blau-Braunen überwiegen frühere Nichtwähler, aufgesogene Rechtsextreme und von links her Rekrutierte, im Bildungsprofil unterkomplexe Wutbürger, deren Verhetzungsgrad unter dem Dauerkonsum rechter Medien inzwischen zu einer robusten Parteibindung an die AfD geführt hat. Schon zu Jahresbeginn waren sich 17 Prozent der nun 20,8 Prozent ihrer AfD-Wahl ganz sicher.

"Zu wenig und zu spät"

Ein "Willkommen in der Wirklichkeit" gilt aber auch den Sozialdemokraten, die meinten, man könne die Aufholjagd von 2021 mit Vizekanzler Olaf Scholz nun 2025 mit dem Kanzler der ungeliebten Ampel wiederholen. Auch wenn Scholz – soviel Gerechtigkeit muss sein - es ungewöhnlich schwer hatte in der "artfremden" Koalition mit Lindners FDP und den Grünen, hat sich der respektable zweite Mann hinter Merkel nicht als geeigneter erster Mann erwiesen, gerade auch außenpolitisch. 

Auch deshalb konnte Deutschlands historisch stolzeste Nazigegner-Partei am Ende die "Gegen-Rechts"-Karte nicht ausspielen. Sie ordnete den Kampf der Ukraine ums Überleben nicht hinreichend in ihr antifaschistisches Deutungsmuster ein, sondern mehr in ihr entspannungspolitisches der Siebzigerjahre. Noch vor der Wahl stellte sich heraus, dass Europa zu viel Zeit verloren hat für die entschlossene eigene Aufrüstung und Zurüstung der Ukraine. Beim "Zu wenig und zu spät" spielten Scholz und der Mützenich-Flügel eine unrühmliche Rolle.

Bemerkenswerte Beratungsresistenz

Zur Interpretation des SPD-Absturzes um 9,3 Prozentpunkte gehört aber auch: Die SPD kam schon 2017 nur knapp über 20 Prozent, und die 26 Prozent von 2021 stellten einen Ausreißer nach oben dar vor dem Hintergrund des ungünstigen Gesamttrends nach rechts und bei Konkurrenz mehrerer, nun sogar vier Parteien links der Mitte. Das SPD-Ergebnis 2021 war wesentlich dem Versagen des unpopulären Unions-Kanzlerkandidaten Laschet zu verdanken, der inhaltlich mäanderte (besonders in der Pandemiepolitik), den Merz-Flügel hofierte und am Ende auch noch Merkel-kritisch und tollpatschig im Wahlkampf auftrat. 

Friedrich Merz (CDU), Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, spricht im Konrad-Adenauer-Haus während eines Interviews. Am Sonntag fand die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt.  / © Sebastian Christoph Gollnow (dpa)
Friedrich Merz (CDU), Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, spricht im Konrad-Adenauer-Haus während eines Interviews. Am Sonntag fand die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt. / © Sebastian Christoph Gollnow ( (Link ist extern)dpa )

Dass die Union sich trotzdem 2024 wiederum entschied, den im Wahlvolk und bei den eigenen Wählern am wenigsten beliebten von drei denkbaren Kandidaten ins Rennen zu schicken, der zudem keinerlei Regierungserfahrung vorweisen konnte, zeugt von bemerkenswerter Beratungsresistenz der Parteiführungsblase. Spitzenkandidaturen gegen das Votum der Wählerbasis von oben nach unten durchzustellen, funktioniert im 21. Jahrhundert nicht mehr. Noch im Januar hatte Carsten Linnemann 35 Prozent als Zielmarke für die Wahl angegeben. Gemessen daran ist die CDU mit dem engen Merz/Linnemann-Profil krachend gescheitert. Gegenüber 19,5 Prozentpunkten Verlust der Ampel-Parteien ist der Zugewinn von 4,3 für den Oppositionsführer kläglich.

Daueropposition gegen die eigene Regierung

"Willkommen in der Wirklichkeit!" muss man drittens der FDP zurufen. Ihre Strategen kalkulierten oberschlau, mit Daueropposition gegen die eigene Regierung und einer Koalitionsbruchs-Intrige rechtzeitig vor der Wahl - statt ehrlich zu sagen: "Wir können das nicht mehr verantworten und treten aus der Regierung aus" - sei es möglich sich noch aus der Verantwortung zu schleichen und ein zweites Mal "lieber nicht regieren als schlecht zu regieren" (Lindner). 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Christian Lindner (FDP) nebeneinander im Schloss Bellevue / © Christoph Soeder (dpa)
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Christian Lindner (FDP) nebeneinander im Schloss Bellevue / © Christoph Soeder ( (Link ist extern)dpa )

Mit sowas verliert man dann halt mehr als die Hälfte seiner Wählerschaft, auch wenn man last minute noch eilfertig scharf rechts blinkt, um zur AfD hin radikalisierte "Libertäre", die längst nicht mehr liberal sind, oder zur Union Abgewanderte zurückzugewinnen. Dieser Move erinnert in trauriger Weise an die wirtschaftsnahe DVP nach Stresemann. Sie schwenkte in den letzten Jahren der Weimarer Republik nach rechts und schmolz zur NSDAP hin wie Schnee unter der Sonne, von 9 auf 1 Prozent.

"Teufel mit Beelzebub" austreiben

Ein viertes "Willkommen in der Wirklichkeit" erlebte Sahra Wagenknechts BSW. Das von der Talkshow-Königin entfachte Strohfeuer reichte zwar für zwei Regierungsbeteiligungen im Osten (der übrigens zu 57 Prozent die radikalen Randparteien wählte), aber nicht im Bund. Wurde Wagenknecht anfänglich noch als Geheimwaffe gegen die AfD betrachtet, so stellte sich nun heraus: Von keiner Partei zog ihr russlandfreundliches links-konservatives Querfront-Projekt weniger Stimmen ab als von der AfD. Es funktioniert politisch halt selten, "Teufel mit Beelzebub" auszutreiben.

Die Grünen, seit Jahren das Haupt-Hassobjekt der Rechtsradikalen und in nacheilendem Gehorsam auch von der Union zum "Hauptgegner" (Merz) bzw. für völlig koalitionsunfähig (Söder) erklärt, kamen vergleichsweise glimpflich davon. Sie gingen 2021 mit ihrem historisch besten Ergebnis (14,8%) in die Ampel hinein und kommen mit dem zweitbesten ihrer Geschichte (11,6%) wieder heraus. 2017 waren es nur 8,9 Prozent. Ihre geringen Verluste sind auch deshalb bemerkenswert, weil ihr Kernthema Umwelt- und Klimaschutz unter den Themenprioritäten der Deutschen an Bedeutung verlor. 

Besondere parlamentarische Verantwortung für die Grünen

Die relative Stabilität dürfte mit ihrem als sympathisch geltenden Spitzenkandidaten und ihrem entschiedenen Freiheitsdenken in der Ukraine-Politik mit Abkehr vom einstigen Pazifismus zu erklären sein. Teils haben sie als sozialliberale Kraft die FDP beerbt, teils konnten sie nach Angela Merkels Abgang in die christlich-soziale und liberale Klientel der Union einbrechen. Nun kommt ihnen als einziger Oppositionspartei der demokratischen Mitte eine besondere parlamentarische Verantwortung zu.

Auch Kirchen unter Druck 

Die parlamentarischen Parteien der "alten" Bundesrepublik Deutschland erhielten zusammen noch 61 Prozent der Stimmen. Viel ist das nicht. Die neue Koalition wird angesichts der dramatischen Weltlage nach dem Ausscheren der USA aus der "westlichen Wertegemeinschaft" unter einem kriminellen Präsidenten mit autoritärer Agenda zügig einen tragfähigen Koalitionsvertrag verhandeln und dann disziplinierter arbeiten müssen als ihre Vorgängerin. 

Herausgefordert ist angesichts der multiplen Krisen aber nicht nur die Politik. Für die Zivilgesellschaft einschließlich der Kirchen gilt angesichts des weltweiten autoritären und extremistischen Drucks auf demokratische Rechtsstaaten mehr denn je ein Diktum Benjamin Franklins: Nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 soll er auf die Frage, ob man denn nun eine demokratische Republik habe, geantwortet haben: "Ja, wir haben sie - wenn Sie sie halten können."

Quelle:
DR

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