Die Europawahl 2024 räumt gleich mit mehreren Legenden und Selbsttäuschungen auf. Erstens: Die Behauptung eines "linksgrünen Mainstreams" steht endgültig als larmoyante Gesinnungsegozentrik oder Propagandalüge da, die die politische Wirklichkeit verdreht, um sich selbst zum Underdog, wenn nicht gar Unterdrückten zu stilisieren.
Diese Weinerlichkeit passt übrigens nicht zu "männlichen Tugenden", die Rechte so gern fordern. Der wahre Zeitgeist in Europa ist schon lange rechts, und er weiß es meistens auch. Nur in wenigen Residuen, in denen Bildung und Kultur noch zur Regel gehören oder beruflich Zugangsvoraussetzung sind, dominiert weiter liberales Denken mit Mitte-Links-Tendenz. Auch wem linke Dominanz im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk früher "gestunken" hat oder wen missionarisches Gendern als deutsche Überregulierungswut in linker Variante nervt, sollte sich mit dem Gedanken anfreunden, dass linke Korrektive inzwischen für die Balance des politischen Systems gar nicht so falsch sind. Zu krasse Ungleichgewichte lassen Systeme kippen. "Der Staat ist der Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen", definierte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset. Das war 1929...
Zweitens: Seit die rassistischen und autoritären "Remigrations"-Fantasien nicht nur als Plan journalistisch aufgedeckt, sondern offensiv von der AfD beworben wurden, während ihre Europa-Spitzenkandidaten im Sumpf von Landesverrats- und Bestechlichkeitsvorwürfen versanken und Maximilian Krah auch noch den verbrecherischen Charakter der SS durch eine Individualisierung von Schuld relativierte, hofften manche, nun würden "Protestwähler", "besorgte Bürger" und bloß Ampel-Frustrierte sich von der AfD lossagen wie die französischen Rechtsradikalen und die Rechtsaußen-Fraktion im Europaparlament. Von wegen! Die Hälfte der AfD-Anhänger erklärte sich mit dem objektiv desaströsen Wahlkampfverlauf ihrer bevorzugten Partei explizit "zufrieden" (Infratest). Völlig schmerzfrei und moralisch abgestumpft. Die Unterscheidung von bösen AfD-Funktionären und gutmeinenden, anständigen Bürgern, die Typen wie Krah oder Bystron nach oben spülten, war immer falsch, spätestens nach der ersten Häutung der Partei 2015, als rund ein Fünftel der Mitglieder mit Bernd Lucke sie verließen und Hans-Olaf Henkel zerknirscht zugab, man habe "ein Monster" geboren. Datenanalysen zeigen, dass die Radikalisierungswellen von der Parteibasis ausgingen und die Parteiführung vor sich her trieben. Der Fisch stinkt hier nicht bloß "vom Kopf her". Jedes Volk bekommt in der Demokratie früher oder später die Politiker, die zu ihm passen und die es verdient. Die Fäulnis breitet sich von unten her aus, die populäre Elitenschelte greift zu kurz.
Die 22 Prozent AfD-Anhänger (Infratest), die "zu viele Rechtsextreme in der Partei" beklagen, bleiben vor lauter Verhetzung gegen die demokratischen "Altparteien" oder aus purem Opportunismus trotzdem dabei. Das jahrzehntelang unbestrittene Tabu, dass man mit Rechtsextremen nichts macht außer sie auszugrenzen und zu bekämpfen, schert den sogenannten "gemäßigten Flügel" der AfD nicht. Fast ein Sechstel der Wähler gab dieser moralischen Wurstigkeit durch ihre Stimme nun Recht. Unwissenheit mindert die Schuld, die man sich durch solches Mitläufertum auflädt, längst nicht mehr. Den Kriegstreiber und Massenmörder im Kreml wird es freuen. Alice Weidel warnte am Wahlabend auf n-tv vor einer "Dämonisierung" Putins. Mehr muss man über diese Person und ihre Partei eigentlich nicht wissen.
Pulverisiert ist drittens die falsche Annahme, durch das BSW-Projekt der einstigen kommunistischen Flügelfrau der Linken werde die AfD wesentlich geschwächt. Nun zeigt sich: Der beachtliche Erfolg des politischen Neulings verdankt sich, wie jener der frühen AfD (und der NSDAP) laut der Forschungsgruppe Wahlen hauptsächlich bisherigen Nichtwählern (34 Prozent), gefolgt von Ex-Wählern der Linken (18 Prozent), der "Anderen" (14 Prozent), der Union (10 Prozent!), der SPD (9 Prozent) und der Grünen (7 Prozent); von der AfD zog Wagenknecht nur 4 Prozent ihrer Stimmen ab. Etwa ein Drittel der BSW-Wähler kam von zweifelsfrei demokratischen Parteien, ein Drittel von links der Mitte. Mit diesen Stimmen kann man paradoxerweise nun eine Politik machen, die dem faschistoiden Putin-Regime nützt. Das BSW konvertiert linke und demokratische Stimmen zur Einflussmasse für eine nationalpazifistische, antiwestliche Politik. Es reduziert also nicht die Gefahr, die von der AfD ausgeht, sondern dupliziert sie. Mehr als ein Viertel der deutschen EU-Abgeordneten vertreten nun Parteien, die den Abwehrkampf der liberalen Demokratien gegen imperialistische Gewaltherrschaft nicht unterstützen. Gerade angesichts unserer historischen Verantwortung eine nationale Schande.
Die vierte Desillusionierung betrifft die Union. Friedrich Merz, einst angetreten, um seine Partei wieder gen 40 Prozent zu führen und die AfD zu halbieren, schafft aus der Opposition trotz einer extrem unbeliebten Regierung nur ein EU-Wahlergebnis, das hinter den ersten der regierenden "Merkel-CDU" (2009: 37,9 Prozent, 2014: 35,3 Prozent) klar zurückbleibt und deren letztes (2019: 28,9 Prozent) nach 14 Regierungsjahren kaum verbessert. Bei der jüngsten Wählergruppe (16-24 Jahre) liegt die Union nur noch gleichauf mit der AfD (je 17 Prozent). Damit ist fünftens das linke Klischee vom Faschismus als Unverbesserlichkeit oder Versuchung der Alten - womit sich das Problem demographisch auswachsen werde - widerlegt. "Genosse Trend" nutzt den Kohorteneffekt eher zugunsten eines neuen "Volksgenossentums". Der konservativere Kurs der CDU führte nicht einmal zu einer Erweichung der AfD-Wahlabsicht. 2019 trafen 37 Prozent der AfD-Wähler ihre Wahlentscheidung nach eigenen Angaben "aus Überzeugung", 59 Prozent "aus Enttäuschung"; nun wählt die Mehrheit (51:44 Prozent) "aus Überzeugung" die Rechtsradikalen. Das Angebot eines Konservatismus a la Merz und Söder geht einher mit Aufwuchs und Verfestigung der AfD-Wählerschaft. Der Versuch, rhetorisch "das Stinktier zu überstinken", war vergeblich. Die Imitation rechtspopulistischer Themenprioritäten und Tonalitäten bestärkt vielmehr AfD-Wähler, richtig zu liegen - und schneidet die Union von Mitte-Wählern ab: Obwohl nur noch 23 Prozent der Deutschen mit der Ampel zufrieden sind, würden 33 Prozent die sie tragenden Parteien erneut wählen (Infratest), etwas mehr als bei der Europawahl. Wenn SPD, Grüne und FDP im Wahlkampf wieder für ihre Programmatik pur eintreten, wird die Union Teile ihres Zugewinn in der Opposition wieder verlieren, erst recht wenn sie erneut mit einem unbeliebten Kandidaten antritt. Ursula von der Leyen sähen 42 Prozent der Deutschen gern weiter als Kommissionspräsidentin. Von solchen Werten kann Friedrich Merz in der Kanzlerfrage nur träumen.
Weiterhin schwach ist auch die Überzeugung der Bundesbürger, dass die Union es in der Regierung besser machen würde als die Ampel: Deren schlechtem Image zum Trotz schwankt diese Erwartung zwischen nur 22 und 39 Prozent. Hinzu kommt, dass die Union zum Regieren die ausgelaugte Sozialdemokratie mit Russlandkomplex oder ihre angeblichen "Hauptgegner" brauchen wird, womöglich sogar beide. So macht sich eine fatalistische Stimmung breit, die den simplifizierenden Versprechungen der Radikalen zugute kommt. Das Wirtschafts- und Mittelstands-dominierte Profil der CDU wird auch dem Themen-Ranking ihrer Wähler nicht gerecht: 20 Prozent priorisierten (Infratest) das Wirtschaftswachstum, 22 die soziale Sicherheit. Die CDA wird es aufmerksam registrieren.
Sechstens: Desillusioniert zurücklassen müssen die Daten zu den wahlentscheidenden Themen auch Ökofundamentalisten, Klimakleber und Co: In den politischen Prioritäten der Bevölkerung sind "Klima und Umwelt" trotz Prognosen der Wissenschaft und sich häufender Naturkatastrophen abgestürzt. Die "größte Rolle" für ihre Wahlentscheidung sehen die Deutschen vor allem beim Frieden (26 Prozent), der Sozialen Sicherheit (23 Prozent) und der Migration (17 Prozent, AfD-ler: 46 Prozent). Klima und Umwelt (14 Prozent) verloren 9 Prozentpunkte gegenüber 2019. Kein Wunder also, dass die Grünen wieder auf dem Niveau ihrer Europawahlergebnisse von 2009 und 2014 landeten. Nach dem ungewöhnlich starken Ergebnis 2019 - aus der Opposition heraus und mit dem Rückenwind der "Fridays for Future"-Bewegung - wäre es unseriös, die nun 12 Prozent zu einem Grünen-Abgesang hochzujazzen. Sie erleben eher eine Normalisierung nach einem Ausreißer nach oben. Schmerzen muss die Partei aber, dass sie fast zwei Drittel ihrer jungen Wähler (unter 30) verloren hat: minus 19 Prozentpunkte! Indes die AfD hier 10 Punkte zulegte, das BSW 6 und die Union 3; die anderen Parteien stagnierten.
Trotz geringerer Verluste wirklich deprimierend ist das Wahlergebnis der SPD, deren Versuch, sich im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine als Friedenspartei zu inszenieren, nicht verfing. Waffenhilfe in einem Existenzkampf zu wenig, zu spät oder gar nicht zu leisten und dafür vom Wähler belohnt zu werden: die siebte Desillusionierung dieser Wahl. "In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod": Wann war dieses Wort so bitter treffend wie hier und jetzt? Dagegen riss die profilierteste Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gegen den Minustrend der EU-Liberalen ihre FDP heraus: Sie blieb stabil.
Ende Mai sagten 62 Prozent der Wahlberechtigten, dass sie sich sehr stark oder stark für die Europawahl interessieren, 13 Punkte mehr im Vergleich zu Anfang Mai. Schließlich lag die Wahlbeteiligung mit 65 Prozent etwas höher als 2019. Mehr als ein Drittel der Deutschen interessierte sich aber weniger (28 Prozent) oder gar nicht (8 Prozent) für diese Wahl. Der Wahlkampf hat zwar noch mobilisiert, doch der politisch wache, partizipationseifrige Staatsbürger bleibt angesichts akuter Bedrohung durch Gewaltherrschaft und Extremismus eine Illusion (typischerweise linker Provenienz). Nach den eindrucksvollen Massendemonstrationen gegen die AfD ist dies die achte Desillusionierung dieser Wahl.
Im künftigen EU-Parlament dürften EVP, Sozialdemokraten und Liberale eine Mehrheit von etwa 40 Stimmen haben. Kooperationsbereit sind auch die geschwächten Grünen. Das ergibt angesichts geringerer Fraktionsdisziplin als in nationalen Parlamenten aber keine bequeme demokratische Mehrheit. Wieder einmal in der Geschichte kommt es nun vor allem auf die moderat Konservativen und Christdemokraten an: Schielen sie in primär anti-linker Grundstimmung nach Mehrheiten mit der autoritären Rechten, oder folgen sie dem Primat zweifelsfrei demokratisch-liberaler Allianzen? Italiens Regierungschefin Meloni mag pro Ukraine und pro-EU gesinnt sein, aber ihr Umgang mit der Unabhängigkeit von Medien und Justiz sowie der faschistischen Vergangenheit offenbaren eine politische Natur, die jener der radikalisierten polnischen PiS ähnelt. Dass die Polen sich dieser mit Ach und Krach entledigen konnten und sie nun erneut schwächten (minus 5 Sitze), ist angesichts neuer 6 Sitze für die rechtsextreme Konfederacja ein schwacher Trost. Eine solche Abwahl muss nicht immer gelingen, wo radikal Rechte sich den Staat zur Beute machten. Die Freiheit Europas bleibt nicht nur wegen Russlands Imperialismus und des Wankens der US-Demokratie fragiler denn je. Ganz zu schweigen vom Desaster in Frankreich und der kopflosen Überreaktion seines gedemütigten Präsidenten, die in der internationalen Lage verantwortungslos ist. Europa, quo vadis?
Zum Autor: Dr. Andreas Püttmann ist Politologe und Publizist.