DOMRADIO.DE: Sie sitzen mit der Deutschsprachigen Katholischen Gemeinde St. Bonifatius in Tower Hamlets und sagen, die Stimmung dort sei aggressiver geworden. Woran machen Sie das fest?
Andreas Blum (Pfarrer der Deutschsprachigen Gemeinde St. Bonifatius, London): Unmittelbar nach dem Überfall auf Israel fanden hier schon Demonstrationen statt, aber nicht etwa in Solidarisierung mit den Opfern, sondern eindeutig pro Hamas und Palästinenser.
Innerhalb weniger Tagen war das ganze Stadtviertel beflaggt. Professionell, nicht einfach nur, wie man es vielleicht bei Fußballweltmeisterschaften kennt, wenn eine Fahne aus einem Wohnhaus heraushängt. Es hängen an Masten, vor Supermärkten, vor Kindergärten, vor Schulen, in den Parks großflächig die Palästinaflaggen.
Das Ganze hatte schon eine recht einschüchternde Wirkung auf alle Menschen, die hier leben. Denn so eine Fahne ist ein Symbol, die auch einen Ort für sich reklamiert. Man hatte den Eindruck, man bewegt sich plötzlich nicht mehr in England, sondern in Palästina und auch in einem Kampfgebiet.
Denn die Demonstrationen waren alles andere als friedlich, es gab skandierende Chöre, die von Israel als einem Terrorstaat sprachen. Und das alles unmittelbar nach dem Terror-Überfall. Das löste bei der jüdischen Bevölkerung, aber auch bei allen anderen ängstliche Gefühle aus.
DOMRADIO.DE: Vor Weihnachten hat es einen körperlichen Übergriff auf einen ihrer Gemeindemitarbeiter gegeben. Was ist passiert?
Blum: Es hatte sich jemand vor unserer Tür gezeigt, der so tat, als ob er Hilfe bräuchte. Der Mitarbeiter hat die Tür geöffnet und wollte helfen. Allerdings ist der Besucher nicht nur ausfällig geworden, sondern auch handgreiflich.
Unsere Mitarbeiter tragen ein Sweatshirt mit einem Kirchturm und einem Kreuz. Er hat angefangen, den Mitarbeiter auf seine Arbeitskleidung zu schlagen. Als ein weiterer Mitarbeiter dazukam und man versuchte ihn zum Gehen zu bewegen, ist es richtig eskaliert.
Es hat fast 40 Schläge auf den Kopf gegeben. Das führte zu einem Schädelhirntrauma. Der Mitarbeiter musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Angreifer hat das Ganze mit Allah-Rufen untermalt, sodass wir davon ausgehen müssen, dass es sich um einen islamistisch motivierten Übergriff handelt. Uns hat man später gesagt, das wäre nicht sehr überraschend, weil Deutsche hier im Viertel als Judenfreunde gelten würden.
DOMRADIO.DE: Auch islamistische Schmierereien an ihren Gebäuden hat es gegeben. Was steht da und wie gehen Sie damit um?
Blum: Wir sind tatsächlich die Kirche, die der großen Moschee hier am nächsten steht. Wir haben öfter schon kleine Teufelchen oder auch größere Teufel in roter Farbe an den Wänden gehabt, oder "Allah is watching you".
Solche Schmierereien haben wir schon seit einigen Jahren. Die Stadtverwaltung ist dabei allerdings hilfreich. Es gibt eine Nummer, die wir anrufen können, weil wir ein öffentliches und ein religiöses Gebäude sind. Eine Firma kommt dann und entfernt diese Schmierereien.
DOMRADIO.DE: Was macht das alles mit den Menschen in Ihrer Gemeinde? Sind die verunsichert?
Blum: Es gibt eine gewisse Verunsicherung. Gott sei Dank führt sie nicht so weit, dass man den Ort meidet. Die Besucher kommen weiterhin und auch die Gemeinde versammelt sich weiterhin. Aber wir nehmen alle trotzdem wahr, dass sich das Viertel stark verändert und nicht zum Besseren.
Wir versuchen uns nicht zu verstecken, weil wir das für die falsche Strategie halten. Es ist ein sehr vielfältiges Viertel, das von Einwanderern geprägt wurde. Deshalb sind wir Deutsche hier auch ansässig. Aber es scheint uns wichtig zu sein, einer Gruppe nicht eine solche Dominanz zukommen zu lassen, die andere Gruppen derart in den Hintergrund drängt.
DOMRADIO.DE: Wie ist das für Sie selbst? Sie als Pfarrer sind besonders exponiert. Haben Sie manchmal Angst, wenn Sie aus dem Haus gehen oder wenn Sie sich in der Kirche bewegen?
Blum: Ich persönlich nicht. Wenn man nicht in die direkte Konfrontation geht, dann passiert auch nichts. Ich weiß allerdings von benachbarten Schwestern aus Brasilien, die im Ornat auf die Straße gehen, dass die bespuckt werden.
Oder dass ein Priester, wenn er die Soutane trägt, manchmal für einen islamischen Geistlichen gehalten wird und um einen Segen gebeten wird. Aber sobald er das Kreuz rausholt, mit Flüchen bedacht wird.
Wenn man als Zivilist durch Tower Hamlets läuft, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Wenn man in eine inhaltliche Diskussion geht oder aber eben auch Kippa, Davidstern oder Kreuz offen zeigt, dann kann es schon passieren, dass das als Provokation verstanden wird.
DOMRADIO.DE: Sie haben Kippa und Davidstern angesprochen. Ich nehme an, noch mehr als gegen christliche Gemeinden richtet sich muslimischer Hass in diesen Wochen und Tagen gegen jüdische Gemeinden und Einrichtungen.
Blum: Das East End war sehr jüdisch geprägt aufgrund vieler Pogrome auf dem Festland. Von den vielen jüdischen Immigranten, die ins East End kamen, ist heute nicht mehr viel übrig. Viele Juden sind bereits weggezogen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie Kontakt mit einer der Synagogen?
Blum: Ja, bei meinem letzten Besuch in der Synagoge hier wurden die Türen abgeschlossen, als wir drinnen waren. Als wir rausgehen wollten, wollte ich einfach die Tür aufmachen, um wieder auf die Straße zu treten, aber ich wurde zurückgehalten.
Man müsste immer erst mal durch den Spion gucken, bevor man auf die Straße treten darf, wurde mir gesagt. Das hat mir einen Schauder über den Rücken laufen lassen. Die Tatsache, nicht einfach nach draußen gehen zu können, sondern Angst haben zu müssen, dass jemand draußen steht, der es auf mich abgesehen hat, nur weil ich eine Synagoge verlasse oder weil ich eben eine andere Religion habe. Das sind schon beängstigende Zustände, die mich an die dreißiger Jahre in Deutschland erinnern.
DOMRADIO.DE: Wie reagiert die Zivilgesellschaft?
Blum: Ein Beispiel: Das Royal College of Music hatte vor einiger Zeit ein Projekt. Das College hat sich Musiker angeschaut, die aus Nazideutschland nach England geflohen waren, die dann hier gelebt und gearbeitet haben.
Zusammen mit der Musikhochschule Köln sollte es in der Synagoge in Finchley ein Konzert geben, in dem diese Musik aufgeführt wurde. Das ist von der Polizei aus Sicherheitsbedenken untersagt worden. Es fand dann vor einem ausgewählten Publikum von 20 bis 30 Leuten statt, dort hätten eigentlich 200 oder 300 sitzen sollen.
Ich fand es insofern beklemmend, Musik zu hören von Menschen, die vor dem Antisemitismus geflohen waren, in ein Land, indem man Jahrzehnte später aus Angst vor weiteren Gewalttaten ihre Musik nicht mehr frei aufführen darf. An der Stelle ist es uns allen bewusst geworden, dass Antisemitismus ein sehr aktuelles Problem ist in einigen Londoner Stadtvierteln.
DOMRADIO.DE: Wie reagieren die Behörden vor Ort?
Blum: Das ist eigentlich die größte Enttäuschung. Wir haben es mit einer Bezirksregierung zu tun, die fest in muslimischer Hand ist. Das hat mit der Bevölkerungszusammensetzung zu tun. Wir haben einen Bezirksbürgermeister, der schon vor Jahren der Korruption angeklagt und überführt wurde, der dann nach einer gewissen Schamfrist aber wieder kandidiert hat mit einer neuen Partei. Der wurde prompt wieder gewählt. Die Bangladeschis und Pakistanis, die in dieser Partei den Ton angeben, dominieren alle Einrichtungen im Stadtviertel.
Dagegen ist kaum anzukommen. Jetzt könnte man sagen, vielleicht hilft wenigstens die Polizei. Wir bekamen zwar eine Aktennummer, aber bei unserem Vorfall zum Beispiel ist kein Polizist mehr vorbeigekommen oder hat uns in irgendeiner Weise unterstützt.
Das Ganze wird von der Polizei verwaltet. Aber ob da eine gewisse Angst besteht, des Rassismus beschuldigt zu werden? Ich weiß es nicht. Sowohl Polizei als auch Bezirksregierung erleben wir nicht als hilfreich in dieser Auseinandersetzung.
DOMRADIO.DE: Was ist denn mit interreligiösen Initiativen? Sie sind katholischer Pfarrer. Sie könnten zu muslimischen Vertretern und zu Imamen Kontakt suchen.
Blum: Wir haben ein Interfaith Forum hier in Tower Hamlets. Das ist wieder eine interessante Erfahrung. Das klingt nach außen wunderbar. Es gibt tolle Fotos und tolle Initiativen, aber alle meine Eingaben oder Anfragen, die ich seit Oktober an dieses Interfaith Forum gemacht habe, sind bis heute unbeantwortet geblieben. Es gab nicht einmal eine Reaktion.
Ich versuche seit sechs Jahren mit dem Imam in der benachbarten Moschee in Kontakt zu treten. Ich bin über ein Vorzimmer noch nicht hinausgekommen.
Wir haben auch eine interessante Initiative in der Diözese Westminster Interfaith Pilgrimage. Das heißt, in einem Stadtteil werden verschiedene religiöse Orte aufgesucht. Das haben wir auch hier im East End in Whitechapel gemacht. Wir als deutsche katholische Gemeinde waren der christliche Ort. Es waren ein Sikh-Tempel, eine Synagoge und besagte Moschee daran beteiligt.
Das Interessante war, es haben sich eigentlich nur Christen, ein paar Sikhs und ein paar Juden mit auf diesen Weg gemacht. Wir waren herzlich willkommen in der Moschee, aber nicht ein einziger Muslim ist mitgegangen an die anderen Orte. Das war wieder ein sehr deutliches Beispiel dafür, dass das Interesse an anderen Religionen und an anderen Gruppen hier im Stadtteil gering ist.
DOMRADIO.DE: Was fordern Sie? Was müsste passieren, damit Gegenden wie Tower Hamlets nicht komplett kippen und zu No-Go-Vierteln für Nichtmuslime werden?
Blum: Dieser Begriff No-Go-Viertel war von einem ehemaligen Minister für London ins Spiel gebracht worden. Den halte ich für übertrieben. Man kann sich in Tower Hamlets schon noch bewegen, aber ich finde, dass sich das Stadtviertel auf einer abschüssigen Bahn befindet.
Das Wichtigste ist erst einmal, dass man sich ehrlich macht. Dass man wirklich sagt, was funktioniert und was nicht funktioniert. Was ist nur eine Alibiveranstaltung und was ist wirklich ernst gemeint? Das heißt, man wird nicht um eine gewisse Konfrontation herumkommen.
Man muss dem Bezirksbürgermeister, seiner Partei oder der großen Gruppe der Muslime entgegentreten und sagen, dass ein Zusammenleben oder die viel gepriesene Vielfalt des Oberbürgermeisters hier unter die Räder zu geraten droht, wenn man nicht mehr Rücksicht aufeinander nimmt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.